Es gab ein neues Grab auf dem Friedhof.
Das war es wohl, was mir an diesen Nachmittag als erstes auffiel, nachdem ich die Pforte passiert hatte. Überhäuft mit bunten Blumenkränzen stach es heraus, wie ein Clown auf einer Trauerfeier. Den leuchtend gelben Löwenzahn, welchen ich Mama heute mitgebracht hatte, noch in der Hand, blieb ich vor den vielen Blumen stehen.
Aufwändig gestaltete Blumenkränze mit bedruckten Bändern schmückten den Platz des neuen Grabmals, einer neben dem Nächsten. Sie überlappten sich dabei fast. Ein Holzkreuz für den erst neulich Verstorbenen. Später würde es durch einen Grabstein ersetzt werden. Den Namen darauf kannte ich nicht. Ich fragte mich, wer es gewesen war. Ob er alt geworden war. Warum er gestorben war. Wie es seiner Familie, seinen Freunden erging. Wie sie damit zurechtkamen.
Ich starrte das Grab an, starrte auf das Band zu meinen Füßen, verfing mich in diesen Worten.
»In liebevoller Erinnerung.«
Die selben Worte, wie sie auf einem anderen weißen Band gedruckt gestanden hatten.
Ich vergas den Löwenzahn in meiner Hand und dass bereits einige Monate vergangen waren. Wieder stand ich auf dem Friedhof vor ihrem Grab an jenen verregneten Tag.
~
Die Urne wurde in die Erde gesetzt, mit welkenden bunten Rosen beregnet und das dunkelgrüne Tuch darüber gezogen. Erst als Erde das Grab bedeckte und Unmengen von bunten Blumen den braunen Fleck verdeckten, schienen die schwarz Gekleideten zufrieden. Mit hängenden Köpfen schlenderten sie durch den Regen davon.
Endlich war ich allein.
Zitternd einatmend schloss ich die Augen, in der Hoffnung, danach etwas anderes zu sehen. Dennoch, dieser schreckliche Film wollte nicht enden, auch nicht nach drei Tagen. Ich war der passive Zuschauer, den man eine aktive Rolle im Drama verpasst hatte.
Ich wollte verstehen, was passierte, passiert war. Doch ich verstand es nicht, konnte es nicht. Zu viel, zu viel auf einmal.
„Mama...", formte ich tonlos mit den Lippen. Immer wieder.
Sie sollte hier sein, hier neben mir stehen. Mir die Hand auf die Schulter legen. Mich anlächeln. Sie sollte mir sagen, dass ich nur schlecht geträumt hätte. Alles gut war.
Tränen benetzten mein Gesicht.
Nichts war gut. Sie war nicht hier. Auch nicht dort unten in der Erde. Sie war weg. Sie war fort.
Meine Hand ballte sich zur Faust.
Für immer.
Ich konnte sie nicht gehen lassen, noch nicht. Wollte es nicht.
„Komm zurück." Lautlose Worte, übertönt vom Regen, verklangen bevor sie erklangen und hinterließen nichts, als eine graue Leere, die nicht einmal meine Tränen füllen konnten.
Es war nass. Es war kalt. Meine Kleidung längst durchgeweicht. Ich bemerkte es kaum.
Stumm stand ich da, erstarrt, wartete darauf, dass meine Mutter von den Toten zurück kam. Es war egal, wie lange es dauen würde, ich würde warten. Warten, obwohl ich wusste, dass es aussichtslos war. Hoffnungslos.
Sie kam nicht zurück.
Dabei hatte sie es versprochen. „Ich bin immer bei dir, mein Herzblatt", hatte sie gesagt und dann flüsternd hinzugefügt: „Ganz egal, was uns zu trennen scheint." Ich hatte ihr geglaubt.
Davon, dass sie sterben würde, hatte sie nie gesprochen. Es konnte nicht sein, durfte nicht.
Ich konnte nichts tun. So weinte ich und der Himmel weinte mit mir.
~
Unscharf war das Bild vor meinen Augen. Dennoch sah ich heute mehr, als an jenem Tag. Ich sah, dass sich ihr Lächeln in jeder Blume widerspiegelte, sie mir durch die Sterne zuzwinkerte und mich mit einem Windhauch umarmte. Denn ich wusste, dass sie da war.
„Ganz egal, was uns zu trennen scheint."
Ich sah sie nicht, konnte sie dennoch wahrnehmen. Die gemeinsamen Erinnerungen halfen mir dabei.
Vorsichtig blinzelte ich ein paar Mal und löste mich aus meiner Starre.
Plötzlich bemerkte ich, wie sich von hinten jemand genähert hatte. Ich drehte mich um und erblickte eine Frau, kaum drei Meter von mir entfernt. Sie starrte mich einige ewig andauernde Augenblicke an, bis sie den Blick abwandte und an mir vorbei zu dem neuen Grab sah.
Ich wollte erleichtert aufatmen, als ich die einzelne Blume in ihrer Hand bemerkte.
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𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈
Spiritual»Fühle dich nicht einsam. Das gesamte Universum befindet sich in dir.« ~ Rumi 🙞 ⋆ 🙜 Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren, wenn die eigene Welt plötzlich stehen bleibt, während sich die um einem herum einfach weiterdreht...