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Ich hatte gerade Mittagspause, sodass mich nur noch zwei Unterrichtsstunden von meinem Besuch auf dem Friedhof trennten. Etwas lustlos stocherte ich in meinem Essen herum. Es war bereits kalt geworden.

Theo fehlte nun schon den gesamten Schultag. Das würde sich heute auch nicht mehr ändern, das wusste ich. Gestern hatte er von dem bevorstehenden „großen Familientreffen" erzählt und dass es 700 Kilometer von hier entfernt stattfand. Sie mussten dazu einen Tag eher anreisen, wodurch er leider einen kompletten Schultag verpassen würde. Wahrscheinlich war also, dass er jetzt gerade im Auto saß und seine Schwester ihn erfolgreich überredet hatte, zusammen Ausmalbilder zu verunstalten und sie ihr Lieblingshörbuch nun schon zum dritten mal in Folge hören mussten – so hatte es Theo jedenfalls prophezeit. 

„Entschuldigung, darf ich mich mit hier an den Tisch setzen?"

Überrascht davon, dass ich eben angesprochen wurde, hob ich den Kopf. Vor mir stand ein Mädchen mit schulterlangen aschblonden Haar und einer Brille, die mir ein wenig verbogen vorkam. Ich erinnerte mich nicht, sie je zuvor in der Schule gesehen zu haben.

„Ja klar, der Tisch hat sicher nichts dagegen."

„Meinst du?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Er hat bisher noch nie nein gesagt", merkte ich an.

Etwas zögerlich stellte sie ihren Teller auf den Tisch, zog sie den Stuhl zurück und setzte sich. Ich sah, wie sie ihr Essen betrachtete und sich auf ihrer Stirn eine Falte bildete.

„Wahrscheinlich aber nur, weil er nicht sprechen kann." Sie warf mir einen schrägen Blick zu. „Oder habt ihr hier Tische, die reden können?"

Ich schmunzelte. „Also, ich habe schon ganz aufschlussreiche Gespräche mit diesem Tisch hier geführt", meinte ich leise und tippte leicht mit den Fingern über die Tischplatte.

„Echt jetzt? Wenn mein Essen nicht so laut »Iss mich!« schreien würde, könnte ich ihn vielleicht eher zuhören." 

Wir lachten, als führten wir jeden Tag solche Gespräch. Kurz aßen wir beide schweigend, das heißt, sie aß, ich stocherte weiter auf meinem fast leeren Teller herum. 

„Bist du neu an der Schule?"

Sie nickte kauend. „Mein erster Tag heute."

„Na dann willkommen hier."

„Danke. Wir sind erst hergezogen. Ich kenne praktisch nichts und niemanden hier, aber bis zu einen gewissen Grad sind doch alle Schulen gleich."

„Das ist bestimmt nicht einfach, wenn alles neu ist."

Sie winkte ab. „Das heißt auch, dass es ungeheuer viel zu entdecken gibt. Außerdem, ich glaube kaum, dass ich meine alte Heimat so sehr vermissen werde."

Ich schwieg. Obwohl sie unbeschwert klang, schwang bei dieser Aussage doch etwas mit. Ich wollte ihr nicht zu nahe treten, also fragte ich nicht weiter nach.

Sie war es, die den Faden wieder aufnahm: „Ich bin gerne draußen, aber jetzt nicht sowas wie Radfahren oder laufen, eher so in Richtung mit einem Hund kuscheln, lesen, Fotos machen. Und du? Was machst du, wenn du nicht mit Tischen redest?"

„Ich bin auch gerne draußen", antworte ich etwas zurückhaltender. 

„Schön", erwiderte sie und richtete ihre Brille. 

Dann klingelte es auch schon vor. Wir standen auf, schafften unsere Teller weg, und dann trennten sich unsere Wege. 

Solch einfache Gespräche, dachte ich, und dennoch sind sie gar nicht so leicht zu führen. Nie wusste ich, ob ich die richtigen Worte fand, wusste nicht, was meine Worte in meinem Gegenüber auslösen konnten. Ich kannte das Mädchen mit der verbogen Brille nicht, wusste nicht, was sie erlebt hatte, wusste nicht, was sie dachte. Andererseits wusste sie auch nicht, was ich erlebt hatte. Und trotzdem hatten wir miteinander reden können, dort am Tisch in der Mittagspause.

𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt