Seit meinem Besuch mit Theo im Schlosspark waren ein paar Tage vergangen. Tage, die sehr schnell verstrichen waren. Die Schultage waren lang gewesen, die Abende kurz. Ich war mir noch nicht sicher, doch vielleicht hatte sich wirklich etwas verändert.
Gut gelaunt kletterte ich über den Gartenzaun, sah mich nicht einmal danach um, ob mir jemand zusah. Wozu auch? Warum sollte er mich aufhalten wollen? Warum sich die Mühe machen? Ich hatte festgestellt, dass viele - wann immer es ging - den Weg des geringsten Widerstands wählten, sich nicht mehr anstrengten als unbedingt nötig war, und wenn sie diskutierten, dann über belanglose Themen und ohne nennenswertes Ergebnis. Es war mir gleichgültig. Warum sich drüber aufregen?
Also sprang ich auf der anderen Seite einfach hinunter und lief weiter über die Wiese mit dem hohen Gras. Es war ein sonniger Tag mit strahlend blauen Himmel. Keine Wolke weit und breit, nicht einmal in meinen Gedanken.
Heute war ein besonderer Tag, denn heute brachte ich zum ersten Mal eine Blume mit zu Mamas Grab. Für Mamas Grab.
Es war eine spontane Idee gewesen. Vorhin, am Straßenrand. Ich hatte mich gerade gefragt, woher eigentlich die Blumen aus dem Blumenstrauß kamen, die auf dem Grab meiner Mutter standen. Wo und von wem sie gepflückt wurden.
Vielleicht ja von hier?, dachte ich, denn hier gab es einiges, was wild blühte. Ich stellte mir vor, einfach jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zum Friedhof war, eine wildwachsende Blume vom Wegesrand zu pflücken, mit dem Gedanken daran, den Platz vor einem trostlosen kalten und harten Stein zu beleben. Mit dem Gedanken an Mama, die sich immer über selbst gepflückte Blumen freute, mehr als über einen noch so perfekten Strauß vom Florist, für den man auch noch Geld ausgegeben hatte. Mit dem Gedanken an dieses Naturwunder, welches eine Blume doch war. Die zarten Blütenblätter, die strahlenden oder durchscheinenden Farben, jede Blüte war einzigartig.
Ich hatte mich öfters gefragt, was Menschen empfinden, wenn sie mit einem Strauß Blumen vor dem Grab stehen. Ob sie sich an den Blumen festklammerten, als wollten sie nie wieder loslassen? Ob sie die ganze Zeit über Angst hatten, die Blumen zu zerquetschen? Oder ob sie vergasen, dass sie ihn in den Händen hielten?
Was empfand ich?
Meine Füße hatten mich wie von selbst zu Mamas Grab gebracht. Ich bemerkte es erst jetzt, als ich davor stand. Was empfand ich, als ich jetzt vor dem Grab stand?
Ich schloss die Augen, um meine Gedanken zu ordnen. Da gab es mit einem Mal so viel. Stimmen, Bilder, ein tobendes Meer.
Ich stellte mir ein Schiff vor, wie es hin und her gerissen wurde. Immer stärker und stärker. Mit jedem Wort und jedem Bild prallte eine Welle gegen das Bug. Ich fühlte meine Angst, Angst, dass es kentern würde, dass es untergehen würde, in den gigantischen Wellen. Angst, dass ich untergehen würde, in der Flut aus Bildern, Stimmen, Gefühlen. Ich war das Schiff. Winzig im Vergleich zu den Wellen, zerbrechlich im Vergleich zu ihrer Kraft.
Langezogen atmete ich ein, versuchte meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen, atmete langsam aus. Dann merkte ich, wie die Wellen kleiner wurden, wie der Wind abnahm und zu einer sanften Prise wurde, die vorsichtig um das Schiff strich. Die Wellen hatten sich gelegt, denn ich war nicht nur das Schiff. Ich war das Meer. Ich war der Sturm.
Als der Sturm nun verstummt war, traute ich mich, die Augen wieder zu öffnen. Ich sah die Blume in meiner Hand. Bedächtig trat ich einen Schritt vor, hockte mich hin und steckte sie zu den anderen in die Vase.
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„Oh, was hast du denn wunderschönes mitgebracht?" Meine Mutter ging in die Hocke, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
„Eine Blume." Ich streckte den kurzen Arm aus, damit sie die Blume besser sehen konnte. „Für Mama."
„Danke, mein Herzblatt", sagte sie, atmete tief den Duft der Blüte ein und lächelte.
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Lächelnd trat ich zurück. In diesen Moment wusste ich, dass jede Erinnerung, wie schmerzhaft sie sich auch anfühlen konnte, unfassbar wertvoll war. Und ich wusste, dass ich sie bewahren wollte, jede einzelne.
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𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈
Tâm linh»Fühle dich nicht einsam. Das gesamte Universum befindet sich in dir.« ~ Rumi 🙞 ⋆ 🙜 Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren, wenn die eigene Welt plötzlich stehen bleibt, während sich die um einem herum einfach weiterdreht...