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Da ich Evelyn auf keinen Fall verpassen wollte, wollte ich extra zeitig das Haus verlassen, um rechtzeitig auf dem Friedhof zu sein. Ich war gerade dabei meine Schuhe anzuziehen, als mein Vater in der Zimmertür auftauchte und mich fragend ansah.

„Triffst du dich wieder mit jemanden?"

Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Unsere Blicke verschränkten sich miteinander.

Ich schluckte. „Ja."

Mein Vater schien zu überlegen. „Wieder mit diesem Theo?"

Wir sahen uns weiter an. Ich war außerstande, meine Augen zu senken, genauso wie ich außerstande war zu lügen. Ich konnte es nicht, wollte es nicht. Also schüttelte ich langsam den Kopf. „Nein."

Er runzelte die Stirn. „Und stattdessen?"

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Sollte ich...? Ich schluckte. Mehrmals.

„Mit einer Freundin von Mama."

Ich sah, wie mein Vater erstarrte. Mama. Das Wort hatte ich so offen lange nicht mehr in den Mund genommen.

„Welche Freundin?" Seine Stimme war leiser geworden.

„Evelyn."

„War das ihr Schulfreundin, mit der sie den Kontakt angebrochen hatte?"

Ich nickte langsam. „Du kennst Evelyn also?"

„Ja, also nein. Nicht wirklich." Er schüttelte den Kopf. „Ist ewig her, dass ich sie gesehen habe. Wie kommt es, dass du Kontakt zu ihr hast?"

„Wir, wir haben uns zufällig getroffen. Sind ins Gespräch gekommen."

„Wie habt ihr euch kennengelernt? Wo? Ihr kennt euch doch gar nicht."

„Gestern, auf dem Friedhof." Ich stoppte, doch der Blick meines Vaters munterte mich auf, weiter zu reden. „Da gibt es ein neues Grab. Überhäuft mit Blumen. Vor dem haben wir uns getroffen." Ich wusste, dass das noch lange nicht alles erklärte. Das erklärte nicht, dass ich jeden Tag auf den Friedhof ging, um meiner Mutter näher zu sein.

„Sie bringt Mama jeden Tag eine Blume ans Grab", fügte ich leise hinzu, „Sie sind schön, die Blumen. Genauso wild und natürlich, wie Mama sie liebt."

Mein Vater schwieg, erwiderte nichts. Ich wusste nicht mal, ob er mich richtig verstanden hatte. Dann, ohne ein Wort zu sagen, kam er auf mich zu und schloss mich in eine Umarmung.

Es war einer dieser Momente. Einer dieser Momente, in denen sich etwas grundlegendes änderte. Jetzt, hier, im Hausflur zwischen meinem Vater und mir, in dieser Umarmung. Und ich wusste, dass es ein weiterer Schritt in die Zukunft war. Heilung kam mir in den Sinn. Hoffnung.

Als mein Vater wieder einen Schritt zurück trat, glitzerten seine Augen und ich spürte, dass auch ich den Tränen nahe war.

Er atmete ein und aus, sagte jedoch nichts.

Vielleicht war der Schritt zu groß, doch ich wollte noch einen weiter gehen. „Ich habe in einer Schachtel alte Fotos von Evelyn und Mama gefunden, die ich ihr geben möchte. Sie kann mit ihnen bestimmt am besten etwas anfangen." Ich zeigte meinen Vater die kleine Kiste.

„Ja, kannst du machen." Mein Vater schluckte. „Du musst los, oder?"

Ich nickte.

„Dann mach das, damit du pünktlich bist. Und-" Er stoppte, als würde er mit sich ringen, ehe er leise hinzufügte: „Sag deiner Mama einen lieben Gruß von mir."

Ich lächelte. Das war mehr, viel mehr, als ich mir von diesem Gespräch gewünscht hätte. „Mach ich."

Keine Minute später lief ich die Straße entlang. Es war wieder ein sonniger Tag. Es schien, als würden die Tage langsam heller werden. Ich dachte an meinen Vater, der mit mir ein Gespräch geführt hatte. Der mir mein Vorhaben nicht ausgeredet hatte. Der mich nicht zurecht gewiesen hatte. Der mich stattdessen unerwartet umarmt hatte. Der möchte, dass ich Mama einen Gruß von ihm ausrichtete. Obwohl ich gar nicht erwähnt hatte, dass ich zum Friedhof ging, doch wahrscheinlich war das selbsterklärend.

Es war ein guter Tag, beschloss ich, ein Tag, an dem sich etwas tat und sich zum Guten änderte.

𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt