Wolken zogen vorbei; nicht schnell. Dennoch fragte ich mich, ob sie es heute eilig hatten.
Dieser Nachmittag war so ganz anders gewesen. Anders als jene, die ich alleine verbracht hatte, selbst so ganz anders als jene, die ich bisher im Park verbracht habe. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich ein offenes Gespräch geführt habe. In meinem Leben hatte es kaum Menschen gegeben, denen ich meine Gedanken anvertraute. Die Einzige, der ich selbst meine dunkelsten Gedanken erzählen konnte, konnte mir nur noch schweigend antworten.
Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich mich nach aufmunternden Worten sehnte, nach jemanden, der die Last auf meinen Schultern auch nur ein bisschen erträglicher machen konnte. Und Theo beherrschte beides. Er war ein guter Zuhörer, bedrängte mich nicht und wenn ich nicht weiter kam, erzählte er mir aus seinem „Schokopudding-Leben", wie er es nannte. Das konnte „super lecker" sein, wie fern man nicht zu viel davon verdrückte, wie er zu seinem 6. Geburtstag. Anderenfalls konnte man sich auch bekleckern und seine Mutter regte sich gerne über solche Nichtigkeiten auf. Er hatte eine „zuckersüße" kleine Schwester, die jedoch Vanillepudding bevorzugte.
„Du wirst mir zwar vielleicht nicht glauben, doch selbst die niedlichste kleine Schwester kann dich in den Wahnsinn treiben!", hatte er behaupte, wobei seine Augen jedoch leuchteten. Ich hatte aufgelacht.
„Ehrlich! Das willst du nicht erleben! Einmal hat sie mir ihre rosa-blümchen Haarspangen in die Haare gesteckt und mir kleine Zöpfchen gemacht. Meine Haare waren ein einziges Durcheinander! Ich werde nie wieder mit Friseur spielen!"
Ich hatte versuchte ernst zu bleiben, vergebens. Und dann hatten wir zusammen gelacht und ich hatte meine trüben Gedanken für einen Moment vergessen können.
Vergessen hatten wir außerdem beide die Zeit. Als Theo irgendwann nach der Uhrzeit fragte, war es bereits spät und da Theo nicht den letzten Bus verpassen wollte, verließen wir den Park. Ich begleitete ihn noch bis zur Bushaltestelle, die wir punktgenau mit dem Bus erreichten.
Jetzt sah ich den Wolken bei ihren Weg über den Himmel zu, die im Licht der untergehenden Sonne rosa wirkten.
Vielleicht fragte ich mich das auch nur deswegen, weil ich es selbst eilig hatte. Damit holte ich mich zurück in die Gegenwart.
Ich war wie so oft auf dem Weg zum Friedhof. Obwohl der Abend herangebrochen war, wollte ich nicht meinen täglichen Besuch auslassen. Später würde ich mich deswegen schlecht fühlen, das wusste ich und gerade heute hatte ich meiner Mutter einiges zu erzählen.
Weil es schon so spät war, machte ich mir Sorgen darum, dass mein Vater vor mir zu Hause sein könnte. Eine Erfahrung, die ich gerne auslassen würde. Als ich über den Zaun kletterte und über das verlassene Grundstück huschte, schob ich meine Zweifel in den Hintergrund. Was zählte war, dass ich jetzt hier war, nicht was später möglicherweise passieren könnte. Ich beeilte mich, zur Mauer zu kommen und dort das Tor zu erreichen, um dort abzubremsen. Den Friedhof wollte ich mit Ruhe betreten.
Im Zwielicht wirkte er verlassener als sonst. Die hohen Bäume schufen tiefe Schatten und hier und da flackerte ein Grablicht. Erst jetzt, als ich auf meine Umgebung achtete, hörte ich es: da ein leises Rascheln im Laub, da das Knacken eines Astes. Bei Sonnenschein am heiligsten Tag war mir dieser Ort definitiv lieber.
Denn jetzt, im Zwielicht, schlichen ganz andere Gedanken herum, die mein Herz schneller schlagen ließen. Mit möglichst leisen Schritten ging ich weiter zum Grab meiner Mutter. Die Farben der Blühten leuchteten nicht mehr, nur ein Weiß stach heraus. Wie der Mond am Nachthimmel wirkte die weit geöffnete Blüte, die ein Nachtblüher zu sein scheint. Ich hatte eine derartige Pflanze noch nie gesehen. Gestern wäre sie mir sicher aufgefallen, so genau, wie ich den Blumenstrauß untersucht hatte. Also kam ich zu dem Schluss, dass jemand am Grab gewesen war. Wieder.
Wie zur Bestätigung hörte ich in diesen Moment ein Knacken links von mir. Ganz nah. Ich starrte in die weiter fortgeschrittene Dunkelheit. Nichts bewegte sich.
Ganz ruhig, da ist nichts. Nur eine Maus vielleicht, oder ein Vogel.
Ich stellte mir die Stimme meiner Mutter vor, die das zu mir sagte. Es half. Zumindest ein wenig. Also atmete ich tief durch und holte mir die Erinnerung an meinen ersten nächtlichen Spaziergang ins Gedächtnis.
~
„Abends, wenn wir zu Bett gehen, erwacht hier draußen das Leben. Viele fürchten sich davor, denn es ist dunkel, kalt und überall huschen Schatten vorüber. Wir sehen schlechter, hören jedoch mehr, und das beunruhigt uns."
Meine Mutter hatte mich eines Abends einfach an die Hand genommen und war losgelaufen, hinein in die Dunkelheit.
„Aber weiß du, mein Herzblatt? Es ist ein Erlebnis wert. Die Angst zu spüren und dennoch weiter zu gehen. Man darf auch mal die dunkelsten Gedanken zulassen. Doch am Ende wirst du merken, dir passiert nichts."
~
Das Wispern der Blätter über mir wirkte beruhigend, als summten die alten Riesen ein Schlaflied. Zeit, nach Hause zu gehen.

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𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈
Spiritualité»Fühle dich nicht einsam. Das gesamte Universum befindet sich in dir.« ~ Rumi 🙞 ⋆ 🙜 Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren, wenn die eigene Welt plötzlich stehen bleibt, während sich die um einem herum einfach weiterdreht...