Mama,
tut mir Leid, dass ich es heute nicht mehr bis auf den Friedhof geschafft habe. Das werde ich morgen nachholen und dir zwei Blumen bringen, eine für die schönen Momente im Leben, eine für die schrecklichen, denn auch sie verdienen eine Aufmerksamkeit.
Bis zum Abend bin ich mit Theo und Raja unterwegs gewesen. Wir sind in der Höhle gewesen, von der du immer erzählt hast, in ihr würde ein Drache leben, der den kostbarsten Schatz hütete. Wahrscheinlich hat er sich bis in den hintersten Winkel zurück gezogen, damit er nicht von diesen neugierigen Menschen gestört würde. Raja meinte, vielleicht würde er schlafen bis die Menschheit bereit wäre sich ihrem Drachen zu stellen. Theo fand das zu fantastisch, mir gefiel die Idee. Was Theo noch viel fantastischer fand, war das Eis, welches wir später an einer kleinen Eisdiele schleckten. Von dort sind wir mit dem Bus zum Schlosspark gefahren, um die Vorzüge eines Springbrunnens an einem besonders warmen Nachmittag weiter auszunutzen, nur um dann glitscht-nass einen Drehwurm auf dem kleinen Karussell des Spielplatzes zu bekommen. Kurzum, die Zeit war zusammen mit meinen neu gewonnenen Freunden so schnell vergangen, dass ich sofort nach Hause musste.
Es war ein wunderbarer Nachmittag gewesen, der mir deutlicher denn je gezeigt hat, dass es weitergeht. Vor einem Monat hätte ich nicht in Erwägung gezogen, so etwas je denken zu können. Das hat sich jetzt geändert.
Mama, ich glaube, ich habe zurück ins Leben gefunden. Mehr noch: ich habe angefangen zu leben. Denn ich glaube, so, ja genau so, fühlt sich Leben an. Und, es fühlt sich gut an.
Dennoch, ich werde auch in Zukunft an dich denken, dich hin und wieder vermissen und mich an die gemeinsame Zeit erinnern.
Danke, Mama, du hast mir so viele Dinge gezeigt, die ich erst jetzt anfange zu sehen. Du hast mir so viel erklärt, was ich nun erst begreifen kann.
Ich weiß nicht wie, doch ich weiß, dich erreicht jedes Wort, was ich an dich richte. Ich weiß nicht, wo du jetzt bist, doch ich weiß, dass du mir immer nah sein kannst. Danke dafür.
Ich unterzeichnete den Brief mit meinem Namen, notierte das heutige Datum und faltete den Zettel, damit er in den Briefumschlag passte, den ich extra dafür aus dem Arbeitszimmer meines Vaters stibitzt hatte. Evelyn hatte mir erzählt, dass ihr Tagebuchschreiben dabei half, die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten. Davon, und von Mamas Brief an Evelyn inspiriert, hatte ich beschlossen diesen Brief an meine Mutter zu verfassen. Vielleicht war er auch ein bisschen an mich selbst. So genau wollte ich mich gar nicht festlegen.
Ich klebte den Umschlag zu und steckte ihn zwischen den Karton mit den Lieblings-CDs meiner Mutter. Wer weiß, wann ich ihn eines Tages öffnen würde, um die Gedanken eines längst vergangenen Tages zu lesen. Die Gedanken eines Tages, an dem jemand beschloss den Schleier der Trauer endgültig abzulegen, um die Welt nicht mehr distanziert und getrübt wahrzunehmen, sondern sie wieder anzusehen – direkt und ohne Scheu.
Kurz ließ ich mich auf das Bett fallen, ehe ich mich wieder auf raffte. Bevor ich heute schlafen würde, musste ich diese eine Sache noch erledigen. Leise ging ich durch den Flur zum Wohnzimmer. Wie an jeden Abend lief der Fernseher, doch anders als sonst nur in geringer Lautstärke. Mein Vater saß im Sessel, ganz vertieft in einer Zeitschrift. Unschlüssig blieb ich im Türrahmen stehen. Wie sollte ich mich bemerkbar machen?
Meine Frage wurde beantwortet, als mein Vater meine Anwesenheit bemerkte und den Kopf hob.
„Was gibt's?" Er schloss die Zeitschrift, legte sie auf dem Couchtisch ab und sah mich an.
„Ich wollte fragen", begann ich und holte kurz Luft, „ob du morgen Nachmittag schon etwas vor hast."
„Bisher noch nichts."
Ich schluckte, um die nächsten Worte über die Lippen zu bekommen. „Ich werde Mama besuchen. Möchtest du mitkommen?"
Mein Vater schwieg, sah mich einfach nur an, bis er langsam auf stand und ebenso langsam auf mich zu trat. Immer noch unbewegt stand ich auf der Schwelle, und da entdeckte ich in seien Augen ein sanftes Glitzern. Als er mich schließlich in eine Umarmung zog, erwiderte ich sie.
„Ja, ich möchte." Seine Stimmer war leise und rau. „Ich hätte sie schon viel eher besuchen müssen. Ich hätte ihr zuhören müssen. Ich hätte so vieles anders machen müssen. Ich hätte-", er sprach nicht weiter.
„Es ist okay", wisperte ich.
Wir lösten die Umarmung, um uns ansehen zu können.
Ein Wort nur, doch so viel mehr. „Danke."
Ich lächelte. „Mama wird sich freuen."
Und als mein Vater zurück lächelte, wusste ich, dass diese Geschichte auch für ihn gut enden würde. „Mama wird sich freuen."
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𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈
Spirituelles»Fühle dich nicht einsam. Das gesamte Universum befindet sich in dir.« ~ Rumi 🙞 ⋆ 🙜 Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren, wenn die eigene Welt plötzlich stehen bleibt, während sich die um einem herum einfach weiterdreht...