Es war ein aufregender erlebnisreicher Tag gewesen und das ohne Theo, bemerkte ich, als ich mich am Abend ins Bett fallen ließ. Erst das Mädchen mit der verbogenen Brille, dann die Frau mit der Blume. Evelyn. Sie hatte mir verraten, dass sie sonst immer Vormittags auf den Friedhof kam, weil sich das mit ihren Arbeitszeiten gut vereinbaren ließ. Heute hätte sie jedoch frei gehabt und da hatte sich der Nachmittag einfach besser angeboten. Morgen war Samstag und wenn ich etwa zur gleichen Zeit wie heute an Mamas Grab vorbeischauen würde, würden wir uns wahrscheinlich wieder treffen. Das hatte Evelyn augenzwinkernd angedeutet, bevor sich unsere Wege wieder getrennt hatten.
Damit hatte sie wieder eine meiner stummen Fragen beantwortet. Es sah ganz so aus, als würden sich nun einige Lücken schließen. Eine Frage hatte ich ihr bezüglich noch: Woher hatte sie sofort gewusst, wer ich war? Wenn sie mich das letzte Mal gesehen hatte, als ich vier Jahre alt war, kann sie mich kaum erkannt haben.
In Gedanken versunken starrte ich an die Decke, eine Schachtel in der Hand, die ich im Kreis drehte.
Sollte ich sie öffnen?
Seufzend setzte ich mich auf. Meine Neugier hatte gesiegt.
Ich betrachtete stirnrunzelnd den Pappdeckel mit der darauf gekrizelten Aufschrift. »Evelyn.« Die Handschrift meiner Mutter, eindeutig. Ich hätte sie unter tausenden wieder erkannt.
Diese Schachtel war eines der Dinge gewesen, die ich von Mamas Gegenständen gesichert hatte, nachdem ich bemerkt hatte, dass mein Vater ihre Sachen entweder wegschmiss, wegbrachte oder wegstaute. Heimlich hatte ich kleine Schachteln, ein Büchlein, eine Mappe und ein kleines Fotoalbum aus ihrem Schreibtisch mit zu mir genommen, um für sie in meinen Schrank einen sicheren Platz zu finden.
Nie hatte ich die Schachtel jemals geöffnet. Vielleicht, weil ich meiner Mutter dieses kleine Stückchen Privatsphäre auch jetzt nach ihrem Tod noch geben wollte. Vielleicht, weil sie mit der Aufschrift und dem rotem Band, das es verschloss, nicht so aussah, als sei es für mich bestimmt. Selbst jetzt noch machte ich mir Sorgen darum, dass dies nicht für mich bestimmt war.
Mama, ich möchte deiner Freundin helfen, dachte ich, und ich möchte wissen, ob diese Schachtel dazu beitragen kann. Dafür ist es nötig, sie zu öffnen. Ich hoffe, du verstehst das.
Vorsichtig löste ich den Knoten des Bandes, legte das Band zur Seite und hob den Deckel von der Schachtel. Was ich darin vorfand war ein verschlossener Briefumschlag. »Für Evy« stand darauf, mehr nicht. Darunter kam eine lose Sammlung von Fotos zum Vorschein. Sie mussten alt sein, denn sie waren zum Teil noch in schwarz-weiß.
Ich schluckte schwer.
Zwei Mädchen grinsten zahnlückenhaft auf einem Foto in die Kamera. Sie konnten kaum alt genug sein, um in die Schule zu gehen. Die linke erkannte ich als meine Mutter, das Mädchen rechts musste demzufolge Evelyn sein. Das nächste Foto zeigte die Beiden auf Fahrrädern. Das Folgende die Zwei in dicken Winterklamotten neben einem Schneemann, der sie um Weiten überragte. Sie beim Tanzen. Sie am Strand. Sie auf einer Picknickdecke.
Ich blätterte sie durch, sah mir ein Foto nach dem Nächsten an und als ich durch war, begann ich von Neuem. Unfähig zu denken versuchte ich jeden Eindruck auf mich wirken zu lassen.
Glücklich. Sie waren so glücklich zusammen gewesen.
Mit dem Ärmel wischte ich eine Träne von der Wange, bevor sie auf die Fotos fallen konnte.
Ach Mama. Wie viel gibt es noch, was ich nicht über dich weiß?
Und dann dachte ich an Papa. Wie viel sie ihm bedeutet haben muss, dass es ihm jetzt so schwer fiel, an sie erinnert zu werden. Vielleicht würde es ihm auch gut tun, auf den Friedhof zu gehen. Oder vielleicht auch in den Schlosspark. Mama hatte mir einmal erzählt, dass sie sich dort kennen gelernt haben, vor vielen Jahren. Ob Evelyn und mein Vater sich kannten?
Den Brief ließ ich verschlossen. Später packte ich die Fotos und den Brief zurück in die Schachtel und band es wieder zu. Morgen würde ich die Schachtel Evelyn überreichen. Es waren nicht meine Erinnerungen, sondern ihre. Sie gehörten zu ihr.
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𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈
Spiritual»Fühle dich nicht einsam. Das gesamte Universum befindet sich in dir.« ~ Rumi 🙞 ⋆ 🙜 Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren, wenn die eigene Welt plötzlich stehen bleibt, während sich die um einem herum einfach weiterdreht...