In der einen Hand die Schachtel, in der anderen Rotklee, den ich zwischen den Gehwegplatten gefunden hatte, so betrat ich an diesem Tag den Friedhof. Als ich zwischen den Gräbern entlang lief, ließ ich meinen Blick über die unterschiedlichen Grabsteine schweifen. Jeder Stein war einzigartig, so wie auch die Menschen, zu deren ehren und gedenken sie angefertigt waren, einzigartig waren. Auch heute noch wirkte das neue Grab besonders bunt.
Ich ging bis zu Mamas Grab, steckte den Klee zu den anderen Blumen in die Vase und hielt einen kurzen Moment inne. Dann setzte ich mich auf die Bank, die dem Grab am nächsten stand und wartete.
Versunken in den eigenen Gedanken bemerkte ich Evelyn erst, als sie nur noch wenige Meter entfernt war. Ich sprang auf und lief ihr die paar Schritte entgegen.
„Guten Tag!" Evelyns Lächeln strahlte so sehr wie die Sonne über uns.
„Hallo", ich lächelte, „Es ist tatsächlich ein guter Tag."
„Na, das höre ich doch gerne", erwiderte Evelyn und schloss mich kurz danach in eine Umarmung. „Schön dich heute schon wiederzusehen." Sie sah mir kurz in die Augen, dann schien ihr etwas einzufallen. „Ich habe da ja noch etwas." Sie hielt eine Blume hoch. Es war weiß blühender Klee. Sie drehte sich zu, Grab meiner Mutter – ihrer Freundin – um und steckte auch ihren Klee zu den anderen Blumen.
Ich räusperte mich. „Lustig, ich habe heute auch Klee mitgebracht. Allerdings Roten."
„Echt? Das ist wirklich lustig."
„Und ich habe auch noch etwas mitgebracht." Ich hielt ihr die Schachtel hin. „Für dich."
Sie nahm das Kistchen mit einem fragenden Gesichtsausdruck entgegen. Ich sagte jedoch nichts, sondern beobachtete, wie sie die Aufschrift las, das Band löste und dann den Deckel öffnete. Sie sah hinein und schlug sich erstaunt die Hand vor den Mund.
„Das sind...! Ist das von...?"
Ich nickte. „Ich habe die Kiste beim Aufräumen gefunden. Ich denke, Mama hat gewollt, dass du sie bekommst. Der Brief ist ganz eindeutig für dich."
Ich sah, wie Evelyn schluckte, als sie den Brief heraus nahm und die Fotos darunter zum Vorschein kamen. Sie begann langsam darin zu blättern, hielt immer wieder inne, um sich eine der Aufnahmen genauer anzusehen. Ich sah die Gefühle in ihrem Gesicht. Freude und Trauer, gepaart mit Sehnsucht, Erinnerungen und Trost. Ein leichtes Glitzern in den Augen. Ein sanft gehobener Mundwinkel.
Sie atmete tiefe ein, legte alles zurück in die Schachtel und schloss den Deckel, ehe sie den Kopf hob und mich ansah. „Danke. Die Fotos bedeuten mir sehr viel. Ich werde mir alles noch einmal richtig in Ruhe ansehen. Ich kann es nur noch einmal sagen: Danke, danke und danke."
„Bitte."
„Wollen wir uns auf die Bank setzten und ein wenig reden? Ich weiß nicht, aber ich glaube, wir könnten das beide gut gebrauchen."
Also setzten wir uns, und das Gespräch, was zwischen uns entstand, war auf seine ganz eigene Art und Weise heilend, Hoffnung bringend und stärkend gewesen. Wir erzählten aus unserem alltäglichen Leben, von schönen und weniger schönen Momenten. Sie erzählte mir von ihrem Stress auf Arbeit und dass sie deswegen nach einer neuen Arbeitsmöglichkeit Ausschau hielt. Ich schilderte ihr mein Verhältnis zu meinem Vater, davon, dass es so langsam wieder aufwärts ging. Evelyn sprach mir Mut zu, mehr mit ihm zu reden. Und dann erzählte ich ihr sogar von Mamas Tod, den absolut schrecklichsten Momenten meines Lebens. Und dennoch kamen die Worte leicht über meine Lippen und hinterließen eine friedvolle Stille in mir.
Ich weiß nicht, ob es an Evelyn lag oder an diesen besonderen Ort, vielleicht war auch einfach jetzt die Zeit reif dafür. Zeit, um mit dem Vergangenen seinen Frieden zu schließen.
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𝐻𝑜𝒻 𝒹𝑒𝓈 𝐹𝓇𝒾𝑒𝒹𝑒𝓃𝓈
Spiritual»Fühle dich nicht einsam. Das gesamte Universum befindet sich in dir.« ~ Rumi 🙞 ⋆ 🙜 Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen zu verlieren, wenn die eigene Welt plötzlich stehen bleibt, während sich die um einem herum einfach weiterdreht...