Kapitel 5

84 14 86
                                    


Ben

Der Rest des Tages war hart. Nadja rief an, fragte, ob er das Essen gefunden hatte, das gestern auf dem Speiseplan gestanden war, fragte, wie er den Abend ohne sie verbracht hatte, fragte, wie das Gespräch mit dem Vertreter der Stadt verlaufen war. Und er konnte nur lügen, lügen, lügen.

Genau das hatte er nie sein wollen: Ein fremd gehender Ehemann, der sich Storys ausdenken musste, damit sein Betrug nicht aufkam.
Aber er hätte auch um nichts im Leben die letzte Nacht missen wollen. Er verlor sich in Tagträumen.
Er fühlte Leas Haut unter seinen Fingern, er schmeckte ihre Küsse, er erinnerte sich daran, wie sie erzitterte, als sie kam.

Sein Herz schrie: Lea! Lea! Lea!
Sein Verstand schrie: Vergiss! Vergiss! Vergiss!
Moment mal! rief er sich zur Räson. Dein Herz ruft nach Lea? Nein! Dein Körper ruft, schreit!
Dein Herz gehört Nadja, deiner Frau!

Er brachte nichts mehr zustande an diesem Tag, fuhr schließlich entnervt den Computer herunter. Gut, dass er gestern vorgearbeitet hatte. Der Vertreter der Stadt, den er versetzt hatte, war etwas unfreundlich gewesen, als er sich telefonisch entschuldigt hatte, einen neuen Termin vereinbart hatte.

Der Weg zum Parkhaus zog sich, nichts war von der gestern gefühlten Hochstimmung übriggeblieben. Unwillig wich er Radfahrern, größeren Touristengruppen, spielenden Kindern aus. Er atmete auf, als er endlich im Aufzug stand, zum obersten Parkdeck fuhr, wo die Dauerstellplätze lagen.

Sonst hatte er immer wie selbstverständlich die Treppe benutzt, heute fühlte er sich steif und unbeweglich. Ein leichtes Grinsen baute sich um seine Lippen auf.

Ist ja auch kein Wunder, nach dieser langen Nacht! dachte er. Doch schnell verbot er sich diese Erinnerung.

Eine Weile stand er an der Ballustrade des Parkdecks, sah auf die mittlerweile beleuchtete Stadt hinunter. Er liebte diesen Blick auf die zahlreichen Kirch- und Patriziertürme.

Als Architekt schätzte er die Harmonie der mittelalterlichen Stadt mit ihren großen freien Plätzen und ihren engen Gassen. Doch auch die Bausünden stachen ihm natürlich immer wieder ins Auge. Kaufhäuser und Banktempel störten an manchen historischen Orten.

Nadja hatte sich immer wieder lustig gemacht über seine Kritik. Lea würde ihn verstehen.

Unwillig wischte er über sein Gesicht.

Woher wollte er das denn wissen?

Er musste aufhören, an das junge Mädchen zu denken!

Sicher passte sie ganz und gar nicht zu ihm, war leichtfertig, sprunghaft, verwöhnt, zickig! Doch warum glaubte er seinen eigenen Gedanken nicht?

Warum suchten seine Augen im Gewirr der Dächer das Haus, in dem sie wohnte?
In dem sie heute an ihn dachte?

Sich erinnerte?

Ziemlich unkonzentriert fuhr er über die Autobahn nach Hause. In der Doppelgarage blieb er noch eine ganze Weile im Auto sitzen. Er scheute sich davor, die Räume zu betreten, in denen er sechs Jahre seines Lebens verbracht hatte und glücklich gewesen war. Mit Nadja, seiner Frau. Und daran würde sich nichts ändern.

Er musste nur vergessen.

In der riesigen, hochmodernen Küche vernichtete er das Essen für gestern, wärmte sich das für heute auf.
Er hatte keine Ahnung, was er in sich hineinschaufelte, es schmeckte nach nichts, aber es machte satt.

Er versuchte eine Doku im Fernsehen zu verfolgen, ließ es bald bleiben, weil sich immer ein schönes Gesicht mit grauen Augen vor die Zebras und Antilopen schob.

Der Weg ... wohin?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt