Kapitel 26

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Dr. Henriette Strettmann hatte leise vor sich hin summend ihr Büro betreten. Die vierzehn Tage Urlaub hatten ihr gut getan. Mallorca hatte so viel mehr zu bieten als Ballermann und überfüllte Strände. Unter anderem einen sehr sexy Wanderführer ...

Wieder einmal als Frau gesehen und behandelt zu werden, hatte ihre Hormone zum Leben erweckt. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, als sie sich daran erinnerte, was sie da unter der wärmenden Sonne mit einem ausgesprochen guten Liebhaber hatte erleben dürfen.

Das Telefon läutete, mit einem Strahlen in der Stimme meldete sie sich. Sie war mental gestärkt, bereit, sich allem zu stellen, was ihr anspruchsvoller Job so mit sich brachte.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie die ziemlich aufgebrachte Stimme eines Mannes mit einem leichten italienischen Akzent.

Der Wortschwall, der an ihr rechtes Ohr drang, war schwer verständlich.
Was sie mitbekam, war der Name ihrer Mitarbeiterin Corinna Schnell, und dass es um die Inobhutnahme zweier Kinder ging.

Sie versuchte, den Anrufer zu beschwichtigen, was ihr schließlich auch gelang. Nach ein paar tiefen Atemzügen war er in der Lage, seine Geschichte ruhig und verständlich vorzubringen. Henriettes Erholung brach in sich zusammen.

Corinna! Was hatte sie wieder einmal in ihrem Übereifer verzapft?
Zwei Babys aus ihrem gewohnten Umfeld zu reißen, wegen der vollkommen ungeprüften Aussage der Mutter des Mädchens.

„Ich darf Ihnen als nicht direkt Erziehungsberechtigten keine nähere Auskunft erteilen, werde mich darum kümmern, Herr Trattoni!" versprach sie und meinte das auch ehrlich. Sie nannte dem aufgeregten Großvater die Namen einiger Anwälte, die sich mit Familienrecht befassten - mehr zur Sicherheit. Eigentlich war sie ja der Meinung, der Vorgang könnte nach einem Gespräch mit Corinna gütlich geregelt werden.

Es war nicht das erste Mal, dass die Sozialarbeiterin vollkommen überzogen gehandelt hatte - und es würde sicher auch nicht das letzte Mal sein. Doch sie wusste auch, warum Corinna so impulsiv vorgegangen war, erinnerte sich mit klopfendem Herzen noch immer an diesen Fall vor drei Jahren.

Meldungen der Klassenlehrerin einer Siebenjährigen, die immer wieder Verletzungen aufgewiesen hatte, waren bei ihrer Behörde eingegangen. Henriettes Vorgänger hatte sich an die Buchstaben der Vorschriften gehalten, hatte Corinna zurückgepfiffen, die sofort hatte handeln wollen.

Als er endlich sein Okay gegeben hatte, hatte der Vater das Kind so schwer verletzt, dass es gestorben war. Das hatte ein Trauma in der Kollegin ausgelöst, das sie immer wieder dazu brachte, vorschnell zu handeln.
Da entdeckte Henriette auch die Akte auf ihrem Schreibtisch. Konzentriert las sie den Bericht Corinnas, die ganzen beigelegten eidesstattlichen Erklärungen der Hausbewohner, die Aussagen der Mutter.

Die Amtsleiterin war sich nach der Durchsicht ziemlich sicher, dass das Ganze nach einem ausgeklügelten Plan der Anwältin und Mutter abgelaufen war. Doch natürlich musste sie mit Corinna sprechen, die ja sicher mehr Einblick hatte.

Da erreichte sie der nächste Anruf, den sie aber schon erwartet hatte. Dr. Kai Neubert, ein sehr angesehener Familienanwalt – im Übrigen auch sehr ansehnlich – überfiel sie mit einem ähnlichen Wortschwall wie Herr Trattoni.
Wortlos ließ sie seine Tiraden über sich ergehen, wartete den Moment ab, an dem er Luft holen musste.
„Langsam, Kai!" bremste sie ihn etwas ein. „Ich bin gerade aus dem Urlaub zurück, werde gleich mit Frau Schnell sprechen!" Sie tauschten noch ein paar höfliche Worte aus, da hörte Henriette, dass Corinna die Räumlichkeiten betrat. „Sie ist gerade gekommen. Ich rufe dich später zurück." versprach sie und beendete das Gespräch.

*

David wollte zuerst einmal bei Ben vorbeifahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Als der Freund ihm die Türe öffnete, erschrak er. Er schien um Jahre gealtert zu sein, Hoffnungslosigkeit stand in seinen Augen. Auf dem Arm hatte er die kleine Mia, die wie am Spieß schrie. David nahm das verunsicherte Mädchen zu sich, Ben ließ sich auf einen Esszimmerstuhl fallen. „Wie geht es Lea?" fragte er leise.

„Sie hält sich tapfer." antwortete David. Dann berichtete Ben von Nadjas subtilem Verhalten, und in David stieg eine grenzenlose Wut hoch.
„Ich fahre zu ihr! Ich zeige ihr die Handyfotos!" Er war verrückt vor Wut auf diese unmögliche Person, er musste sie zur Räson bringen. Das konnte er nicht zulassen, dass diese Frau es schaffen sollte, das Glück seiner Freunde zu zerstören.

Als David gegangen war, hatte Ben das Bedürfnis nach frischer Luft. Mia hatte sich etwas beruhigt, er küsste ihr die letzten Tränen von ihren geröteten Bäckchen. „Was macht diese Frau aus uns?" fragte er sie und sich leise.

An einen Kinderwagen hatte das Monster, das einmal die Frau gewesen war, die er geliebt hatte, wohl nicht gedacht!
Oder?

Er machte sich mit seiner Tochter auf dem Arm auf die Suche. Im Erdgeschoß wurde er nicht fündig. Sicherheitshalber sah er auch noch im Keller des Hauses nach, das er mit so vielen Zukunftsplänen für sich und Nadja geplant hatte. Alle diese Pläne hatten sich im Lauf der Zeit verflüchtigt, hatten sich einfach davon gemacht.
Und er hatte es nicht einmal wirklich realisiert.
Da war sein Job, sein Unternehmen, das er aufbauen musste und wollte, da war viel Arbeit und wenig Zeit, da war Zufriedenheit. Doch Glück war da nicht mehr gewesen, Liebe auch nicht.
Freundschaft vielleicht.
Und er hatte es akzeptiert, hatte aufgehört zu kämpfen.
Hätte er die Gefühle in den Alltag hinein retten können?

Er betrat den kleinen Fitnessraum, den er mit den teuersten Geräten ausgestattet hatte, weil sie ihm weisgemacht hatte, sie wollte etwas für ihre Figur tun. Benutzt hatte sie das alles hier nie. Aber das hatte ihn nicht gestört - dass sie ein paar Pfunde zugenommen hatte. Er hatte sie begehrt und geliebt.

Vieles hätte er ertragen können, hatte er ja auch getan.
Doch in der Summe war es dann letztendlich zu viel gewesen.

Seufzend fuhr er sich über sein Gesicht. „Seltsame Gedanken hat der Papa heute!" flüsterte er nah an Mias Ohr, sog ihren sauberen Babygeruch ein.
An Leas Duft durfte er nicht denken, sonst würde er zerbrechen wie ein zu dünn geblasenes Glas.

Müde schleppte er sich wieder nach oben. „Dann trage ich dich eben. Aber wir müssen hier raus, ich kann in diesem Haus nicht mehr atmen."


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⏰ Letzte Aktualisierung: 4 days ago ⏰

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