Kapitel 9

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Lea raste durch die Wohnung, die leere Wohnung, die verdammt leere Wohnung.
Wie kann eine Wohnung so leer sei, bloß weil ein Mensch fehlt? dachte sie fix und fertig mit den Nerven.

Aber so würde ihr Leben wohl in Zukunft ablaufen.
Das Leben der Geliebten.
Aber sie war die Geliebte!
Sie war die Frau, die er liebte! Er hatte es nie gesagt, sie übrigens auch nicht. Aber sie sah es in seinen Blicken, hörte es aus seinen Worten, fühlte es bei seinen Berührungen.
Beim ersten Mal hatte er noch gesagt, er liebe seine Frau, aber seitdem hatte er nicht mehr von ihr gesprochen. Und sie hatte den Teufel getan und nach ihr gefragt.

Aber heute war sie zurückgekommen. Er hatte es nur in einem Nebensatz erwähnt, war ihren Blicken ausgewichen.
„Wir werden es auf uns zukommen lassen!" hatte er gesagt. Das hieß, sie würde hier sitzen und warten.

Würde sie?
Nein, verdammt, würde sie nicht!
Er lag wahrscheinlich mit ihr im Bett, verwöhnte sie nach der langen Trennung, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam.

Ihre Gedanken spiegelten ihr die schlimmsten Bilder.
Wie konnte sie denn sicher sein, dass er gerade sie liebte?

Das Herz wurde eng, der Atem ging immer schneller.
Sie wollte an diese Dinge nicht denken! Eine Frau in seinen Armen, in seinem Bett.

Sie wollte die andere ignorieren wie an den Tagen zuvor, wusste aber auch, dass sie dadurch nicht verschwinden würde.
Warum nur hatte sie sich auf diese Affaire eingelassen?

Okay!
Er sah verflixt heiß aus.
Er war auch verflixt gut im Bett.

Doch da war mehr, viel mehr. Er nahm sie wahr, hörte ihr zu.
Er war ......
Er war ......

Er war erwachsen. Das war das Wichtigste. Er stand mit beiden Beinen im Leben, zumindest beruflich. Sie hatten immer Themen, über die sich unterhalten konnten.
Er war ein Mann, keiner der gleichaltrigen Jungs, die sich erst noch finden oder beweisen mussten.

Ein Mann mit einer Ehefrau und einem Ehebett! raunte irgendetwas in ihrem Kopf ihr zu.

Sie musste raus hier, bevor sie durchdrehte.

Ohne weiter nachzudenken, schlüpfte sie in das Kleid, das sie am ersten Abend getragen hatte und zog los. Sie brauchte laute Musik, um die Schreie in sich nicht hören zu müssen.
Sie musste tanzen, sonst rannte sie gegen die Zimmerwände.

Ben war bei seiner Frau!
Seiner Frau!
Ben!

Im Club wurde sie freudig begrüßt. Der Discjockey hatte heute frei, war als Gast hier, nahm sie in den Arm, drehte sich ein paar Takte mit ihr.
Seine Augen zogen sie aus, seine Lippen küssten sie hungrig. Sie schob ihn von sich. Was war das? Sollte das ein Kuss gewesen sein? Dieses nasse verschlingende Pressen sollte ein Kuss gewesen sein?

Sie wischte sich über den Mund, dachte an Bens leichtes Streicheln mit den Lippen.
„Dein Sugar-Daddy küsst wohl besser?" meinte Robby beleidigt.
Lea musste lachen. Sugar-Daddy steckte die ganzen Milchbubis hier in die Tasche.

„O ja!" antwortete sie. „Um Längen!"
„Aber ich bin frei!" Er vermutete, dass der Typ, der Lea vor einer Woche abgeschleppt hatte, schwer verheiratet war.
„Das wird schon seinen Grund haben!" konterte sie.
Robby lachte. Die Kleine war schon immer gut mit ihrer Klappe drauf gewesen. Dann war dieser Oliver aufgetaucht, und sie war erst einmal zwei Jahre lang verschwunden gewesen.

„Du könntest ja üben mit mir!" schlug er vor.
„Wenn du deinen Speichelfluss unter Kontrolle hast, vielleicht!" Sie wunderte sich selbst, wie frech sie war.

Da vibrierte ihr Handy in der Hosentasche. Unbekannte Nummer. Sie ging trotzdem ran.

„Hallo, Lea! Ich bin's Ben!" meldete er sich.
„Wart mal! Ich geh schnell raus! Hier ist es zu laut!" brüllte sie zurück.
Sein Herz blieb stehen. Sie war tanzen gegangen! Sie war unter jungen Leuten, lachte, drehte sich aufreizend auf der Tanzfläche, alle würden sie anbaggern.
Die Eifersucht nahm ihm fast den Atem.

„So! Jetzt! Was gibt's?" fragte sie, während ihr Herz raste.
„Was es gibt? Ich vermisse dich! Warum bist du tanzen gegangen?" Die Worte schossen aus seinem Mund, bevor er nachgedacht hatte.

„Warum? Weil mein Herz vor Sehnsucht so gebrüllt hat, dass mir beinahe das Trommelfell geplatzt ist, und weil meine Beine sonst die Wände hochgegangen wären, und es war niemand da, der mich aufgefangen hätte! Darum bin ich tanzen gegangen!" Die Tränen liefen über ihr Gesicht. Er hörte an ihrer Stimme, dass sie weinte, hätte am liebsten mitgeheult.

„Ich komme morgen Mittag vorbei, wenn es dir passt!" presste er hervor, bevor er wirklich zu flennen begann.
„Es passt! Ich habe morgen vorlesungsfrei. Erst ein Seminar um drei!" flüsterte sie ohne zu zögern.

„Gut! Und Lea? Sonnenmädchen, tanz für mich, ja?" Damit legte er auf.
Sie hatte ihn verstanden, wie er sie verstanden hatte. Sie konnte diese Nacht nicht allein in der Wohnung sitzen.
Ja, sie würde für ihn tanzen, nur für ihn.

Das tat sie dann auch. Sie drehte sich allein, gab alles, powerte sich vollkommen aus. Die Jungs merkten, dass ihre Gesellschaft nicht erwünscht war, ließen sie in Ruhe.

Als der Club schloss, trat Robby neben sie. „Komm, ich bring dich heim!" Sie sah ihn misstrauisch an.
„Keine Angst! Ich hab schon begriffen. Aber ein schönes Mädchen wie du sollte nicht allein durch die Stadt laufen mitten in der Nacht."

Sie sah ihn dankbar an. Das war jetzt nach David schon der zweite Typ, der sie eigentlich angebaggert hatte, aber sie dann so freundschaftlich behandelte. Jungs waren wohl ganz okay.

„Danke!" sagte sie nur. Sie liefen durch die Gassen der Altstadt. Grölende Gruppen kamen ihnen entgegen, Lea war froh, dass sie den Schrank von Robby neben sich hatte. Sie nahm sich vor, nicht mehr allein wegzugehen. Die Stadt war zu gefährlich geworden.

„Bist du mit dem Typen jetzt zusammen?" fragte Robby nach einer Weile. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für ihn, irgendwann einmal, wenn er das Küssen gelernt hatte.

Lea zuckte mit den Schultern. „Irgendwie schon!"
„Aber da gibt es eine Ehefrau? Eine, die ihn nicht versteht, nicht ranlässt, sich nicht genug pflegt, alt geworden ist an seiner Seite?" bohrte Robby.

Lea dachte nach. „Ich weiß nicht. Er spricht nicht über sie. Er hat es sich am Anfang schwer gemacht, und eigentlich habe ich ihn angebaggert. Weil ich ihn ins Bett bekommen wollte."

Der junge Mann sah sie verwundert an. Wie offen sie über die Geschichte sprach.
„Liebe?" fragte er noch weiter nach.
„Etwas wie, ja sicher! Bei mir jedenfalls. Bei ihm weiß ich nicht!" antwortete sie. Sie waren bei ihrer Wohnung angekommen. Robby nahm sie freundschaftlich in die Arme.

„Also, ich übe dann mal das Küssen, und in einem Jahr bewerbe ich mich noch mal um die Rolle. Und wenn du in der Zwischenzeit eine starke Schulter zum Ausweinen brauchst, du weißt ja, wo du mich findest." Er wartete noch, bis sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, dann ging er in Gedanken versunken nach Hause.

Sie war schon ein feiner Kerl, die Lea. Er kannte sie seit ihrer gemeinsamen Zeit am Gymnasium, war schon sehr lange sehr verliebt in sie. Aber immer waren andere schneller gewesen.

Der andere Typ sollte nur aufpassen und ihr nicht wehtun, sonst setzte es was.

Lea konnte in dieser Nacht überraschend gut schlafen.

Ben auch. Er stellte sich vor, wie sie am ersten Abend getanzt hatte und nahm das Bild mit in seine Träume.

Am nächsten Mittag raste er zu ihr. Er hatte das Gefühl, sie seit Wochen nicht gesehen zu haben.

Das Frühstück mit Nadja war recht einsilbig gewesen.
„Du hast ja gar nicht gefrühstückt letzte Woche!" hatte sie angemerkt. „Alles ist noch da." Sie strich ihm über den Kopf. „Du hattest wohl keinen Appetit ohne mich."

Verdammt!
Daran hatte er nicht gedacht.
Aber er hatte eben keine Erfahrung im Fremdgehen. Er zwang sich ein Lächeln ab, fasste nach ihrer Hand: „Ja, natürlich!"
„Aber das Abendessen hat dir wenigstens geschmeckt!" stellte sie zufrieden fest.
„Natürlich! Hab alles verputzt!" hatte er gelogen und sie dabei offen angesehen.


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