Kapitel 10

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Endlich hielt Ben Lea wieder in den Armen. Er würde nicht schlafen mit ihr, das hatte er sich fest vorgenommen. Sie sollte nicht denken, er brauche sie nur fürs Bett.

Sie setzten sich auf den Balkon, sahen auf den winzigen Hinterhof, den Wolfgang, ein alter Eigenbrötler, in seine eigene kleine Wohlfühloase verwandelt hatte. Palmen wuchsen in großen Terracottatöpfen, Farne wucherten in den schmalen Beeten entlang der Hausmauer. Ein bequemer Relaxstuhl unter einem Sonnenschirm, ein kleines Tischchen - mehr hatte nicht Platz.
An warmen Abenden saß er alleine dort unten, Fackeln und Kerzen erleuchteten bis tief in die Nacht die Idylle.

Die Alte, die im zweiten Stock wohnte, neidete ihm das Plätzchen, zu dem nur er von seiner Parterrewohnung aus Zugang hatte.
Lea hatte sich ein paar Mal mit ihm unterhalten, hatte ihm auch im Winter, wenn es zu glatt und gefährlich auf dem Kopfsteinpflaster in der Altstadt für alte Knochen war, hin und wieder Lebensmittel besorgt.

Er sprach nie viel, und die Einzige, die so etwas wie einen Draht zu ihm hatte, war Lea.

Für Oliver war er nur der "alte Spinner" gewesen.

Ben hörte lächelnd ihren Erzählungen zu, als sie ihm von Wofgang berichtete. "Er ist sicher einsam!" schloss sie, und er verliebte sich noch ein bisschen mehr in das Mädchen, das nicht nur schön, klug und begabt war, sondern auch ein Herz für andere hatte.

Dann fragte er sie nach dem gestrigen Abend und war erleichtert, als er erfuhr, dass Robby sie nach Hause gebracht hatte. Ein kleiner, eifersüchtiger Stich wollte sich zwar melden, aber schnell unterdrückte er ihn.

Du hast es gerade nötig! rief er sich zurecht und scheuchte die Erinnerung an die Nacht mit Nadja fort.

Schnell begann er von seiner Arbeit zu erzählen, von Ideen, die ihn zur Zeit förmlich übrspülten, sie diskutierten das Für und Wider einiger Ideen, die ihm durch den Kopf gegangen waren.

Vor allem über den behindertengerechten Ausbau der neuen Schule hatte er sich viele Gedanken gemacht. Im Zuge der Inclusion würden sicher auch vermehrt Kinder im Rollstuhl die Schule besuchen. Die Stadt wollte einen Aufzug im Hauptbau, dafür gab es auch Zuschüsse vom Land.
Doch Ben schwebte eine Rollbahn vor, wie in Supermärkten, die bei Bedarf eingeschaltet werden könnte. "Da wären die Schülerinnen und Schüler mit Handicaps nicht so separiert wie in einer Kabine!" argumentierte er, und Lea konnte ihm nur bewundernd zustimmen.

"Außerdem könnten die Rampen auch andere benutzen, also, ohne dass sie in Betrieb sind, das Gedränge auf den Treppen würde entzerrt, die Unfallgefahren zum Beispiel beim Pausenende reduziert!" lieferte sie ihm ein weiteres Argument.

Für diesen tollen Einwurf musste er sie küssen.

Eine Stunde hatten sie durchgehalten, eine Stunde lang ihre Hände daran gehindert, sich selbstständig zu machen, doch dann mussten sie sich fühlen.

Es wurde knapp mit der Zeit bis zu ihrem Seminar. „Ich fahr dich, dann schaffst du es." Lachend liefen sie zum Parkhaus, lachend fuhr er sie zur Uni, lachend küssten sie sich zum Abschied. Sie hatte noch fünf Minuten Zeit, die mussten schon sinnvoll genutzt werden.

Wieder lief sie danach David in die Arme. Er sah sie forschend an. „War das nicht der Knüppers?" fragte er dann.
Lea senkte den Kopf. Verdammt! Sie mussten vorsichtiger sein.
„Ja!" antwortete sie leise.
„Aha! Jetzt verstehe ich dich noch besser. Er ist ein guter Typ. Echt jetzt. Aber seine Frau ist fürchterlich."

Ungefragt plapperte er weiter. „Ich hab sie mal nach einem Symposium kennengelernt, auf dem er eine Reihe von Vorträgen gehalten hat. Sie ist vollkommen von sich überzeugt, die Frau Anwältin. Interessiert sich null für seinen Job. Im Leben der Nadja Knüppers zählt nur Nadja Knüppers."

Lea war nicht sicher, ob sie das alles wissen wollte. Ben sprach nie über seine Frau. Aber jetzt hatte sie einen Namen und ein paar böse Worte.
Das war vielleicht gar nicht gut.
Das machte vielleicht Hoffnungen, die sich nie erfüllen würden.
„Lass gut sein, David!" bat sie dann auch. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht zu viel von ihr weiß."

Oliver sah, dass sie schon wieder einvernehmlich plaudernd mit dem Doktoranden den Raum betrat.
Der sollte bloß seine Hände von ihr lassen! Sonst hänge ich ihn beim Prof hin! dachte er wütend. Doch da kam schon Dolly angestakst, in Highheels und mehr als knappen Shorts.
„Hallo! Olli-Schatz!" Sie knutschte ihn schmatzend und nass.
Morgen werde ich Schluss machen! schwor er sich. Müsste er eben wieder zu seinen Eltern ziehen, bis Lea sich ausgesponnen hatte.

Am Abend kam Ben mit dem Auto. „Komm! Ich zeige dir die Firma!" rief er aufgedreht in der Türe, und Leas Herz machte einen gewaltigen Satz.
Was sie zu sehen bekam, war beeindruckend. Das ganze obere Stockwerk eines riesigen Gewerbeneubaus am Rand der Altstadt beherbergte Knüppers-Bau.

Stolz führte er sie herum, zeigte ihr sein Büro, die Objekte, an denen sie arbeiteten.
Ihr großes Fachwissen und ihre guten Ideen flashten ihn. Innerhalb kurzer Zeit waren sie in ein Fachgespräch eingetaucht, sie machte Vorschläge zur Gestaltung des Pausenraumes, die er gleich umsetzte.
Er drehte sie im Kreis herum. „Du bist echt eine Wucht, Mädchen!" rief er überglücklich und küsste sie.

Da läutete der Festnetzanschluss. „Warum gehst du eigentlich nicht an dein Handy?" blaffte Nadja ihn an.
„Ich war in einem dienstlichen Gespräch!" antwortete er seelenruhig, und es war ja nicht einmal gelogen.
„Na, wenigstens bist du wirklich in der Firma! Wird das jetzt eigentlich zur Regel, dass ich allein zu Abend esse?" fragte sie schärfer, als sie es eigentlich gewollt hatte.

„Es geht zu Zeit nicht anders!" versicherte er und legte auf. Er konnte Lea nicht offen ansehen. Verdammt!
Wie sollte das denn weitergehen?

„Fahr heim!" sagte sie leise. „Ich laufe!"
Ohne Abschiedskuss drehte sie sich um und lief allein durch die Stadt.

Ben machte sich auf den Weg nach Hause, aß schweigend irgendetwas, das sehr gesund schmeckte, im Wohnzimmer lief der Fernseher.
Nadja setzte sich zu ihm. „Wie war dein Tag?" fragte sie, um gleich von ihrem zu erzählen, ohne seine Antwort abzuwarten.

War sie schon immer so uninteressiert gewesen an ihm?
Warum hatte er das nie bemerkt?
Weil er sie lieben wollte!
Weil sie seine Frau war!
Weil er an dieser Ehe um jeden Preis festhalten wollte!
Nur, dass er diesen Preis alleine zu bezahlen hatte, hatte er nicht wahrhaben wollen.

Sie war seine erste richtige Beziehung gewesen, vorher hatte es nur eine Reihe von schnell wechselnden Affären gegeben. Eine davon mit ihrer Freundin. Dann hatte er sie gesehen, hatte sich in die Schönheit verliebt, wirklich verliebt.

Deshalb hatte er es auch akzeptiert, dass sie nicht so viel Sex brauchte, wie er gerne gehabt hätte.
Sie hatten geheiratet, weil er sie damals liebte, immer noch wirklich liebte.

Er wollte eine Familie, sie schien ihm die richtige Frau dafür zu sein. Doch sie wollte keine Kinder, sie wollte keinen Sex, und er hatte trotzdem noch immer geglaubt, sie zu lieben, hatte es wirklich geglaubt.

Bis Lea kam.
Lea, die ihm zeigte, wie das Leben sein konnte.
Lea, die Sex liebte, nicht genug davon bekommen konnte.
Lea, die Schöne, die Begabte, die Fröhliche, die Lebendige, die Junge.

Die Junge?
War es das?
Nein, ihr Alter spielte keine Rolle.
Er hatte keine Midlifecrisis, er hatte sich kein Frischfleisch gesucht.
Natürlich war ihr Körper wundervoll, aber das war nicht das Wichtigste.
Das Wichtigste war, dass sie lebendig war, dass er sich bei ihr lebendig fühlte.


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