Wilhelmina

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Meine Augen zu öffnen war schwer. Es fühlte sich an, als würden kiloschwere Zementsäcke auf meinen Lidern kleben, und die verhinderten, dass ich endlich wieder was sehen konnte. Mann, ich musste doch erfahren, wer Marlena jetzt so verwirrt hatte. War das Faris oder  doch Lukas? 
Egal wie sehr ich mich konzentrierte, die Erinnerungen an die letzte Nacht kehrten einfach nicht zurück. Auch nicht als ich die Zementsäcke endlich entfernen konnte und mir grelles Licht in meine Augen fiel. 

Genervt stöhnte ich auf. Hätte Ines den Vorhang nicht einfach zu machen können. "Ines...", murmelte ich verschlafen, aber meine Stimme hätte auch die von einem andrem sein können. Bevor ich austicken konnte, fiel mir wieder ein, was gestern passiert war. Marlena war 18 geworden, und so wie wir sie nun mal kannten, bildete sie sich ein, wir müssten unbedingt in einen Club gehen und uns dort zu saufen können. An sich ist das ja nichts Verbotenes, ich mein, wer will das nicht. 
Aber es ist halt scheiße, wenn man sich an nichts erinnern kann, ich mein, ich hab mich jetzt wirklich nicht so volllaufen lassen wie Marlena und Lukas. 

Jedenfalls rollte ich mich von dem Sofa runter und landete auf meinem Bauch. "Au", ich verdrehte meine Augen. Für das, dass ich mich so volllaufen hatte, ging es mir erstaunlich gut. Ich hatte keine Kopfschmerzen oder Gliederschmerzen, das einzige, was fehlte, waren meine Erinnerungen. 

Am meisten wundern tat mich aber der Ort, an dem ich mich befand. Ich hab diese Wohnung noch nie in meinem ruhigen österreichischen Landleben gesehen. A, weil es in meinem Dorf keine Wohnungen, sondern nur Häuser gibt, und B war ich noch nie in einer Wohnung. Ich beschloss die Wohnung zu besichtigen. Ist ja nicht alltäglich für jemanden wie mich, dass man sowas sieht. 

Neben dem Raum, wo ich aufgewacht war, ging ein Gang davon weg. Neben meinem war eine geschlossene Tür, gegenüber davon eine Wohnküche. Davor war eine prächtigere Tür, wahrscheinlich der Eingang. Ich drückte die Klinke behutsam nach unten, aber sie öffnete sich nicht. Neben der Wohnküche war eine weitere geschlossene Tür. Ich öffnete sie kurz. Ah, das war also das Bad. Interessant. 

Ich ging zur Tür neben "meinem" Zimmer. Irgendetwas in mir sagte mir, es sei dumm, wenn ich öffnete. Ich tat genau das, was ich nicht tun sollte: Ich öffnete die Tür. Ich bin immer so: Ich mache immer das, was man mir sagt, was ich nicht tun sollte. 

In dem unbezogenem Bett lag ein Junge mit dunklen verstrubbelten Haaren. Er hatte Arme und Beine von sich gestreckt und schien zu schlafen. Er trug einen gelben Hoodie mit Backprint und eine kurze Sporthose und zwei verschiedene Socken. 
Da war ich jedenfalls ein klein wenig besser dran. Ich trug meinen typischen Schmuck, den silbernen Schlangenring und das schwarz-weiße Flechtarmband an meiner linken Hand. Den silbernen Ring mit dem schwarzen Kristall hatte ich rechts angesteckt. Ich trug meine Ohrringe und meine gleichfarbige Halskette mit Schriftzug "Pisces". Außerdem ein geschmackloses, einfarbiges T-Shirt, dass ich von Lukas geklaut hatte, und eine schwarze Cargo mit Nike-Socken und -Schuhen. Und natürlich meine braune Brille. Manchmal war das Teil ziemlich lästig, aber sie gehört zu mir wie ein Deckel zum Topf. 

Allein von diesem Standpunkt aus beurteilte ich mich als "Style-bewusstere" Person. 
Ich entschied mich, den Jungen weiterhin in Frieden zu lassen und verließ den Raum. 

Kaum hatte ich den Raum verlassen, wurde ich von hinten angetippt. Wer zur Hölle war denn bitte noch hier in dieser verfickten Wohnung? Ich sprang verschreckt zur Seite und ging sofort in Verteidigungsposition - Moment: Gerade eben hatte ich die Tür des Jungen geschlossen - jetzt stand sie wieder offen. Als ich einen Blick auf das Bett erhaschte, war der Junge verschwunden. Turns out: Es war der Junge vom Bett, der mich antippte. Mann, warum war ich manchmal so verdammt dämlich? Ja, ganz wahrscheinlich war ich das. 

"Wer bist du?" Er musterte mich angespannt, aber er hatte sich nicht so verkrampft wie ich, also lockerte ich mich auch. "Das gleiche könnte ich dich fragen, ..." Eigentlich wollte ich seinen Namen sagen, aber den kannte ich ja nicht. Der Dunkelhaarige atmete einmal kurz durch, dann sagte er. "Ich bin Mike. Freut mich dich kennenzulernen, ..." Anscheinend wollte er auch meinen Namen wissen, ohne es zu deutlich anzudeuten. 
Ich seufzte, antwortete aber dann mit meinem Namen: 

"Wilhelmina. Aber es reicht Wilma."

"Interessant. Woher kommst du?" 
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht." 
"Ich komm aus Nähe Frankfurt. Warte du erinnerst mich an Bayerisch mit deinem Dialekt." 
Hatte ich so einen starken Akzent, wenn ich Hochdeutsch sprach? Anscheinend schon. Tja. Ich entschied mich nicht mit Hochdeutsch zu antworten, sondern auf meine Sprache: Österreichisch. Und ja, es ist ein Unterschied zwischen Bayerisch, Österreichisch und Deutsch. 
"Greizgruzefix, spinnst jetz komplett? Des is koa boarischa dialekt, des is estaraichisch. Und jo, des is was andas wia boarisch und deitsch. Saxndianummoina, hakt's?" 

Mike sah mich verwirrt an, so als würde ich eine Fremdsprache sprechen. Naja, vielleicht tat ich das für ihn ja auch. "Das ist Österreichisch. Nicht bayerisch", erklärte ich knapp. 
"Wie alt bist du überhaupt?" Er sah mich spöttisch ab. "Siebzehn", antwortete ich so kühl wie möglich, "lass mich raten, du bist einundzwanzig?" Ich wusste, dass es nicht stimmte, er sah jünger aus, vielleicht so alt wie ich, wenn nicht sogar jünger. 
"Ich bin achtzehn", verbesserte er mich. 

Aus dem Nichts fragte er dann: "Kennst du Hugo? Also LetsHugo?" 
"Ja." Natürlich kannte ich den Typen, der manchmal so rumschrie. War ja nicht so, als ob der mehr mit meinem Bruder kommuniziert hätte als ich in den letzten zehn Jahren meines Lebens. "Der baut in Craft Attack auch immer Österreich, nur dass ..", erzählte er weiter. Ich unterbrach ihn: "Es ihm nie gelingt. Ich weiß."
"Bist du so 'ne Hardcore-Viewerin oder Fangirl?", fragte er abschätzig. "Nein, ich bin selbst dabei. WilhelminaLP, freut mich, dich persönlich kennenzulernen, Wichtiger", stellte ich klar. Er sah mich kurz verwirrt an, aber seine Miene lockerte sich schnell wieder. Erst sagte Mike nichts, dann brachte er einen Witz den ich "noch nie" gehört hatte. 

"Wie heißt eine Ritterin ohne Helm? Wilhelmina." 

Er fetzte sich so weg. Wow, ein geniales Wortspiel. Ist ja nicht so, als ob mir das in der Schule nicht immer gesagt wurde. Nein, gar nicht. Und jetzt, Sarkasmus aus. Danki :) 

"Ich lach mich tot." Ich zog eine Augenbraue nach oben. In den Streams, die ich von ihm, meinem Bruder und der Freundesgruppe der zwei gesehen hatte, hatte er bessere Witze gebracht. "Komm, wir gehen ins Wohnzimmer. Da können wir sitzen", schlug er vor. 
Eigentlich wollte ich eine doofe Bemerkung abgeben, sparte es mir aber dann doch lieber. 

Als wir den Raum betraten, hörte ich nicht auf das, was Mike sagte. Viel mehr schenkte ich meiner Umgebung Aufmerksamkeit. Die kleine Küche war in schönen, pastellfarbenen Tönen gehalten, und es gab ein Bücherregal. Am Esstisch standen zwei Stühle.
Im Wohnzimmerteil von dem Raum stand eine beige Couch, davor ein Tisch mit einem kleinem Heft darauf. An der Wand gegenüber davon hing ein Fernseher an der Wand. 
An der großen Fensterfront hingen keine Vorhänge, und man sah auf eine karge Landschaft. 

"Wilma", ergatterte Mike meine Aufmerksamkeit, "schau dir das an." "Was ist los?", seine Stimme hörte sich nervös an, und das beunruhigte mich. 
Er deutete mir, ich solle zu ihm kommen. Ich ging zu ihm, mittlerweile saß er auf der Couch und hielt das Heft in seinen Händen. 

Das Heft selbst hatte einen schlichten Einband. Einfaches Papier mit Lederoptik. Hier und da waren Schwertgravuren oder sowas Ähnliches eingeritzt. Der Titel lautete Varo 5. 

Wir sahen auf, uns in die Augen. Ohne Worte wussten wir, was das zu bedeuten hatte. 
Varo 5 stand am Beginn - und wir wären ein Team. 

Varo 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt