Wilhelmina

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Es half nichts, aus dem Fenster zu blicken. Das hatte es auch zuhause nichts gebracht, als ich noch nicht verstanden hatte, dass Rafi nicht wieder kommen würde. Trotzdem machte ich mir Sorgen darum, wie ich reagieren könnte, wie er reagieren könnte. 
Anscheinend war ich so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, wie ich "Mike, ich hab Angst." sagte. Ich kam erst vollständig auf den Boden zurück, nachdem sich Mike neben mich gesetzt hatte und fragte, was genau den los sei. 

"Wenn du's nicht sagst, kann man dir aber auch nicht helfen", meinte der Junge, während er die leblosen Bäume betrachtete. "Vielleicht will ich gar nicht, dass du mir hilfst", entgegnete ich. Ich nahm meine Brille ab, legte die zur Seite und flackte mich auf den Boden. "Wenigstens hab ich's probiert." Ich hoffe, er meinte das mehr zu sich als zu mir. 

Ich wusste selbst, dass ich irgendwann darüber reden werden möchte, aber jetzt noch nicht. Nicht jetzt, wo sich Rafis Fehlen jähren wird. Und das hatte Mike auch zu verstehen. Er kannte mich nicht, und er muss mich nicht unbedingt kennenlernen. 

"Hast du Hunger?", hörte ich ihn dann von der Küchenseite her rufen. "Nein", antwortete ich. 
"Willst du trotzdem was?", wollte er sich versichern, und ich überlegte es mir anders: "Ja, gerne." "Es gibt Nudeln", informierte er mich dann. Ich drehte mich zu ihm um, und es war verdammt lustig zu sehen, wie er komplett fokussiert auf die kleine Herdplatte starrte. 
Ich wollte schon einen nächsten Kommentar abgeben, als er dann anfing, in Rekordzeit Nudeln mit Soße zu kochen. 

Ein paar Minuten später saßen wir am Esstisch und aßen die Mahlzeit. Ich hatte es gar nicht bemerkt, aber die Sonne stand schon relativ tief, und sie tauchte uns in ein goldenes Licht. Wir schwiegen uns an, aber es war friedliches Schweigen. Über uns waren manchmal Schritte zu hören, aber es kümmerte uns nicht. Ich weiß ja nicht, was in Mike vorging, aber solange ich mein Essen habe, bin ich friedfertig und mache eigentlich keinen Scheiß. 

Betonung auf eigentlich. Denn als Mikes Handy klingelte war gar nichts mehr in Ordnung. Warum? Ich erlaubte mir einen kurzen Blick darauf, und der Name, der dort erschien, ließ mich unmerklich zusammenzucken: BastiGHG. 
Ich weiß ja nicht, warum man jemanden so einspeichert, ich bleib ja lieber bei Vorname - Nachname. Aber noch weniger weiß ich, warum in aller Welt, er das Telefonat auf laut stellte, sodass auch wirklich jeder Taube mithören konnte. 

"Basti?", meldete sich Mike sofort. 
"Mike? Gut, dass du gleich rangegangen bist", erwiderte Basti. Er wirkte nervös. Was zur Hölle lief den zwischen den zwei jetzt ab? 
"Was ist denn los?" Anscheinend wusste Mike das auch nicht so ganz. 
"Wo ist Wilma?" Das war eindeutig nicht Bastis Stimme, sondern eine die mir relativ ähnlich klang. Rafis Stimme. 
Ich antwortete nicht darauf, das übernahm Mike ohne Kommando für mich: "Bei mir. Wir essen gerade. Aber was ist jetzt los?" "Veni meint, dass...", weiter kam Bastian nicht, denn er wurde gleich wieder unterbrochen. Mann, die Ungeduldigkeit lag anscheinend in der Familie. 
"Ich mein, dass wir uns in Varo 5 nicht begegnen sollten. Bitte, Wilma, Mike", forderte mein Bruder, aber das konnte er - meinetwegen - gerne wieder vergessen: "Du meldest dich Jahre nicht, aber dann machst du dir Sorgen, sobald es ,halbwegs' gefährlich werden könnte. Du kennst mich nicht. Also halt dich von meinem Leben fern. Hättest du dir eher überlegen können." Ich weiß selbst nicht, was ich mir bei dem letzten Satz so gedacht hatte. Aber das wusste ich oft nicht. 
"Wilma, ich ruf dich gleich nochmal privat an. Lass uns das bitte klären", bat Rafi mich. "Von mir aus", antwortete ich nach kurzem Überlegen, "aber nenn mich nicht Wilma. Für dich bin ich Wilhelmina." Dann legte ich auf. 

"Was ist zwischen dir und Veni vorgefallen?", wollte Mike wissen und sah mich neugierig an. Ich seufzte kurz. "Ich erzähl es dir später, ok?", antwortete ich. Mike nickte, und gleich darauf begann mein Handy zu klingeln. 

Unbekannte Nummer. Normalerweise ging ich nicht dran, aber in diesem Fall wusste ich ja, wer der "Unbekannte" war. Ich verließ die Wohnküche und setzte mich dann in meinem Zimmer auf den Boden und lehnte mich gegen die Wand. 

"Wilma?", begann Rafi. 
"Wilhelmina. Noch einmal, und ich leg auf", entgegnete ich kalt. 
"Ist ja gut", antwortete mein Bruder. "Also, was willst du?", fragte ich dann nach. 
"Es tut mir leid, dass ich ned dar war, ehrlich", versuchte er sich zu entschuldigen, aber ich ließ ihn nicht weiterreden. Mann diese scheiß Ungeduldigkeit! 
"Aha. Und was genau soll mir das heute bringen? Rafael, ich hab dich seit acht Jahren komplett aus den Augen verloren! Ich hab dich nur in deinen Streams und Videos gesehen. Du weißt nicht mal, wie ich aussehe, geschweige denn irgendwas von meinem Leben. Du weißt wahrscheinlich nicht mal mehr, wann ich Geburtstag hab...", regte ich mich auf. 
"Doch natürlich weiß ich das! Du hast am 25. Februar", erwiderte er, "Wilhelmina, wirklich. Hör mir doch einmal zu, bitte..." 
Mann, mit meinem Geburtstag hatte er recht gehabt. Also kannte er doch einen winzigen Bruchteil meines Leben. 
"Ich geb dir 60 Sekunden. Zeit läuft", bestimmte ich. 
"Wilhelmina, ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ich weiß nur, dass es mir extrem leid tut. Aber ich kann nichts dafür, du weißt ganz genau, dass das hier meine Arbeit ist. Wenn Varo vorbei ist, kannst du gerne in Wien vorbeikommen, ehrlich", bot er an. 
"Und warum sollten wir uns in Varo nicht begegnen? Angst?", meinte ich hinterfotzig. "Ich will dich nicht töten. Auch wenn's nur ingame ist", stellte er klar. 
Davon ließ ich mich aber nicht beeindrucken, dass er mir das nicht antun wollte. "Das ist Varo. Da wird nicht drauf geachtet, welches Verhältnis man zueinander hat. Hier sind alle Gegner, bis auf seine Teampartner. Und meiner ist Mike und deiner ist Bastian. 
"Kannst du's dir nicht trotzdem überlegen?", bat Rafi vorsichtig. "Eventuell", ich atmete kurz durch, "aber erst, wenn Varo vorbei ist." "Dann halt ich mich auch nicht zurück mit Kämpfen bei euch." Ich glaube, er wollte bedrohlich klingen, aber das konnte er genauso gut wie ich - nämlich gar nicht. 
"Aber mach nicht direkt am Anfang. Da fehlt der Kick", bat ich noch. "Ok", es überraschte mich, dass er einverstanden war, "vielleicht kann man ja noch reden." 
"Wenn du mich erkennst. Naja, bis morgen dann. Schönen Tag noch", ich grinste heimtückisch. Die Chancen, dass er mich erkannte, waren solange gering, bis er Mike nicht entdeckte. Danach wäre ich aufgeschmissen. "Servus", verabschiedete mein Bruder sich, und ich musste lachen, weil es sich so witzig aus seinem Mund anhörte. 

Danach ging ich in die Wohnküche und somit auch zu Mike zurück. Kaum hatte ich mich auf die Couch gesetzt, sprang Mike neben mich und legte sich hin. Es fehlten wenige Zentimeter und ich hätte seine Zehen in meinem Gesicht gehabt, also schob ich seine Beine vorsichtig runter. 
"Wie ist es gelaufen?" Mike sah mich neugierig an. "Ging", ich antwortete kurz, "haben aber alles geklärt."
"Hast du Angst vor morgen?" War das jetzt so eine Art Mini-Fragenhagel? "Nicht wirklich, du?", wenn er fragen durfte, durfte ich auch zurückfragen. 
"Nein, bin gut im PvP. Kommt jetzt n bisschen random, aber hast du dich eigentlich gezeigt?", die dritte Frage - und hoffentlich die letzte. Ich hasse es, Fragen zu beantworten. "Nein, nur per HandCam. Eigentlich plan ich auch ein FaceReveal an meinem 18., aber weiß noch nicht wo und wie", erwiderte ich. "Wenn Varo vorbei ist, kannst du ja bei mir dein FaceReveal machen - natürlich nur, wenn du willst", bot er an.  Das kam jetzt ein bisschen plötzlich. "Ich überleg's mir ok?", wollte ich sicher gehen. Er nickte. 

Dann kam er auf ein komplett anderes Thema zu sprechen: "Ich plan ein bisschen Equipment mäßiges." "Kann ich helfen?", bot ich an. "Gerne", antwortete er, während er sich aufrichtete. 

Varo 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt