Wilhelmina

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Für gewöhnlich stehe ich entweder extrem gut gelaunt auf oder extrem schlecht gelaunt auf. Heute war das nicht der Fall. Es war 5:15 Uhr und der Mond schien noch. Demnach war ich noch extrem müde, aber mein Herz pochte in meiner Brust und die Gedanken in meinem Kopf veranstalteten Zirkus. Ich war mittlerweile einfache Mörderin. Und ich wusste nicht, wie viele Menschen ich noch auf mein Konto zählen dürfte. 

Ich hasse meine Gedanken morgens immer. Da kommt immer so ein Müll raus. Wirklich, ich denke dann immer über alles Mögliche nach, aber ich komme nie zu einem richtigen Entschluss. Das war schon so, als ich noch elf Jahre alt war. 

Da hatte das angefangen, mit dem "Ich-mag-meinen-Körper-nicht". Ich war mir selbst zu dick gewesen, und das nur, weil Marlena und Ines magersüchtig waren und beide deswegen in einer Klinik lagen. Mit elf war das immer nur so phasenweise. Das kam und ging, aber ab meinem vierzehnten Geburtstag, ging die Hölle ab. 
Ich aß immer weniger, trank weniger, vernachlässigte meine Freunde, sorgte dafür, dass ich mir Narben durch Unfälle zuzog. Ich wog da - an meinem Geburtstag - 65 Kilogramm. Ein halbes Jahr später, am 27. August. 2021 wog ich 49 Kilogramm. Mittlerweile war ich 17 - bald 18 - und wog 62 Kilogramm. Ich mochte mich momentan mehr als früher. Trotz der unzähligen Narben, die meinen Körper zierten, und für die ich mich noch mehr liebte. 

Manchmal ist Schmerz und Leiden eben doch ein Weg zu entkommen. Auch wenn es nicht immer der beste ist. 

Ich versuchte wieder einzuschlafen. Ich durfte nicht übermüdet sein. Wenn ich übermüdet war, dann machte ich Fehler, und Fehler konnte ich jetzt gerade einfach echt nicht brauchen. 
Nach einer halben Stunde sah ich dann ein, dass es nichts brachte. Ich zog mich an einem Felsvorsprung über mir kraftlos hoch und sah zu Mike. Der ohne Style lag mit angewinkelten Beinen auf dem harten und kalten Felsboden und schlief. Was würde ich dafür geben, jetzt auch nochmal zu schlafen. Er hatte einen ruhigen Atemrhythmus. Schön für ihn. 

Ich setzte mich, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, an den Rand der Klippe, die höchstens vier Meter von uns entfernt war. Von hier hatte man einen Ausblick über das ganze Gebiet nördlich das Baches oder Flusses, was auch immer das war. Etwas entfernter als zwei Kilometer sah ich einen anderen Berg, auf dem ein kleines Feuer loderte. Zwei Gestalten, die ich nicht erkennen konnte, wanderten um das Warme herum. 

Bei dem Anblick dieser Szene fröstelte mich. Keine Ahnung, ob das überhaupt real war oder doch nur aus meiner Fantasie, es war trotzdem verdammt kalt. Zumindest für mich. Mir wurde schnell kalt. 
Ich überlegte, ob vielleicht irgendwo etwas war, dass mich warm halten könnte, aber Feuer würde zu viel Aufmerksamkeit auf uns lenken - und das wollte ich bestmöglich vermeiden. Da fror ich mir lieber den Arsch ab, als dass wir entdeckt werden. 

Fünfzehn Meter unter mir erstreckte sich der Wald. Es war ein schöner Wald, Mischwald. So Wälder liebe ich. Meine Schule war an ein Waldstück angrenzend, und in der fünften Klasse haben wir dort immer Fangen oder Verstecken gespielt, obwohl wir das eigentlich nicht durften. Ich vermisste diese Zeiten. 
So unbeschwert, frei. Keine Probleme. 

Vom Punkt "Probleme" schweiften meine Gedanken zu Nooreax, der jetzt tot war, oder zumindest ausgeschieden. Mann, eigentlich wollte ich das nicht, aber in aller Panik kann ich nicht gut denken, und schon gar nicht gut. Ich hasse das. 

"Wilma, in dem Projekt geht es ums Töten. Mach dir keine Vorwürfe." Mike war wach. Es erschreckte mich ziemlich. Wie lange war ich bitte hier gesessen? Ich blickte in den Himmel: 7:23 Uhr. Okayy, solange kann ich mich eigentlich nicht still halten. 
Kaum hatte ich das gedacht, fing meine "Hyperaktivität" an. Ich hasse das. 

Woher wusste Mike überhaupt, das ich gerade über meinen Mord nachdachte? "Wilma?" Mike setzte sich vorsichtig neben mich und stützte sich nach hinten mit seinen Händen ab. "Hm?", ich sah den Jungen neugierig an. "Du solltest echt mal nachprüfen, ob du denkst oder redest", meinte er dann und sah mich dabei belustigt an. 

Varo 5Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt