❞ 𝘁𝗮𝗴 𝗳𝘂𝗲𝗻𝗳𝘇𝗲𝗵𝗻 ❝

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»Manche Menschen sind wie Drogen,« die Worte meines Großvaters. »Du willst immer mehr von ihnen. Würdest alles tun, um die Zeit mit ihnen verbringen zu dürfen. Tage ohne sie fühlen sich an, wie ein Entzug. Du weißt, dass diese Sucht dir nicht guttut. Du willst dieses Gefühl aber nicht verlieren.«

Der Wind an meiner Scheibe war es, der mich aus dem Schlaf gerissen hat.

Ich stehe am Fenster, starre auf das dunkle, düstere Meer und höre dem Pfeifen des Windes zu.

Ilayda tut mir gut. Das weiß ich. Vielleicht ist sie meine Droge. Vielleicht bin ich abhängig. Aber sie ist nicht eine, die mich krank macht.

Genau wie gestern gehe ich die Treppe hinunter, betrete die Küche und greife nach einem Apfel. Mein Großvater sitzt am Küchentisch.

,,Matt," sagt er.

,,Hm?"

Er lässt seine Zeitung sinken und legt seine Lesebrille ab. Dann schaut er mir in die Augen. Ich sehe vieles. So viele Gefühle. Aber vorallem ist es bedauern.

Er legt seinen Kopf in die Hände. ,,Es tut mir so leid."

Es tut mir leid, Matthew. Ilaydas Worte.

,,Was?", frage ich verwirrt. Vielleicht auch mit einem Hauch von Panik in der Stimme.

Dann blickt er mich wieder an, nimmt die Zeitung in die Hand und räuspert sich.

»Junges Mädchen gefunden,« liest er. Seine Augen schauen eine Sekunde zu mir, dann senkt er den Blick wieder. »Am gestrigen Vormittag fand eine Joggerin (Jessica W.) die Leiche eines jungen Mädchens an der westlichen Küste. Sie informierte sofort die Polizei. ,,Erst habe ich es gar nicht verstanden," sagt Jessica W. ,,Ich bin immer mit meinem Hund unterwegs. Plötzlich war er weg. Ein Bellen hat mich zu ihm geführt. Und dort war er dann, völlig aufgedreht, fand ich ihn halb im Wasser stehend. Neben ihm lag das tote Mäd-«

,,Sei still," rufe ich. ,,Sei still, sei still, sei still. Warum liest du mir das vor? Warum?!"

Ich kenne die Antwort. Natürlich kenne ich sie.

Es ist ein Schlag in die Magengrube. Ich fühle mich so, als würden alle meine Gefühle auf mich einschlagen. Als wäre es die Welt, die mich begraben möchte. Es fühlt sich an, als könnte ich nicht atmen, weil aus meinen Lungen die ganze Luft gepresst wird.

Ich greife nach der Zeitung, naja, ich reiße sie ihm aus der Hand, meine Beine tragen mich hoch in mein Zimmer.

Mit einem Rucksack auf dem Rücken, in dem sich eine Muschel, eine Blume, ein altes Buch und meine Kamera befinden, stürme ich aus der Tür.

Ich renne. Ich renne ohne Pause. Bis ich dort bin. Dann lasse ich mich in den Sand fallen.

Vielleicht sind es drei Minuten, vielleicht sogar drei Stunden, in denen ich da sitze und auf das Wasser starre. Ich habe kein Zeitgefühl.

Nach einer Weile taste ich nach dem Rucksack. Ich ziehe eine kleine Blume hinaus.

Behalte sie, höre ich ihre Stimme in meinem Kopf.

Dann greife ich die Muschel. Halte dein Ohr dran. Aber nicht jetzt. Erst im richtigen Moment, okay?

Ich drehe das rosane Geschenk des Meeres in meinen Händen. Das ist lächerlich, schreit eine Stimme in meinem Kopf.

Was hast du zu verlieren?, flüstert mir mein Herz zu.

Das zittern meiner Hände ist nicht zu übersehen, als ich die Muschel vorsichtig an mein Ohr halte.

Nichts.

Was hatte ich auch erwartet?

Schließ die Augen, Matthew. Hör ihnen zu. Den Wellen. Hör ihnen zu, was sie dir erzählen.

Es ist, als wäre sie hier.

Also schließe ich die Augen. Konzentriere mich ganz auf die Muschel. Und höre.

Ich liebe dich.

Nochmal.

Ich liebe dich.

Immer und immer wieder.

Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich. Liebe. Dich.

Als ich die Augen öffne kann ich die Tränen nicht aufhalten. Es sind wenige. Vielleicht drei oder vier. Aber jede einzelne ist für sie.

,,Ich liebe dich auch, Ilayda," flüster ich. ,,Ich liebe dich auch so sehr."

wellenschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt