❞ 𝘁𝗮𝗴 𝗳𝘂𝗲𝗻𝗳𝘇𝗲𝗵𝗻 - 𝙚𝙩𝙬𝙖𝙨 𝙨𝙥𝙖𝙚𝙩𝙚𝙧 ❝

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Es fühlt sich falsch an. Hier zu sitzen und ihre Gedankengänge zu lesen. Aber sie hat es mir erlaubt.

Wenn du mich kennen und verstehen willst, lies es. Wenn nicht, überlass es dem Wasser.

Ich würde es niemals fortschmeißen. Niemals. Es ist viel zu kostbar.

Ilayda hatte nach dem Tod ihrer Eltern angefangen zu schreiben. Nicht jeden Tag hat sie notiert. Manchmal gab es Abstände von wenigen Tagen, manchmal von Wochen und einmal hatte sie mehrere Monate nichts reingeschrieben.

Ich lese jede Seite. Erfahre alles über mein Mädchen. Wie es dazu kam, dass sie eine Waise wurde, das Verhältnis zu den anderen Kindern und Teenagern, die erste Begegnung mit mir.

Und ihren Geburtstag. Morgen. Morgen wäre sie achtzehn geworden.

Und ich wusste nichts davon. Ich wusste nicht, wann sie geboren war. Ich wusste nicht, dass sie keine Familie hatte.

Hast du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern? Wie ein Idiot habe ich nachgefragt.

Warum hat sie mir nichts davon erzählt?

War es ihr peinlich? Vertraute sie mir nicht?

Ich schließe einen Moment gequält die Augen. Dann tue ich es. Ich greife nach dem Zeitungsartikel, suche mit den Augen diese Stelle, bei der ich meinen Großvater unterbrochen hatte.

»...Neben ihm lag das tote Mädchen. Der Schock war und ist bis jetzt groß."
Der Rechtsmediziner hat Ertrinken für die Todesursache erklärt. Allerdings soll ein Schlag auf den Kopf das junge Mädchen ohnmächtig geschlagen haben, sodass sie keine Chancen hatte an den Strand zu schwimmen.
,,Wir ermitteln momentan noch, wie die Kopfwunde zustande kam." So Hauptkommissar Gastrell. ,,Ob es am Ende Suizid oder ein Unfall war, wissen wir nicht genau. Aber auch ein Mord ist möglich. Wir können nichts ausschließen. Vielleicht war es ein Fels auf dem sie aufgeschlagen ist, vielleicht hat jemand versucht ihr den Schädel einzuschlagen. Der Rechtsmediziner konnte uns noch keine genauen Informationen geben."
Noch gestern Abend wurde das Mädchen identifiziert. Es handelt sich um die 17-jährige Ilayda Rutherford. Bereits seit vorgestern wurde das Mädchen vermisst

Ilayda Rutherford. Ilayda. Rutherford. Tot. Suizid. Mord. Unfall. Vermisst. Todesursache. Schock. Kopfwunde. Ertrinken.

Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Schrei von mir kommt. Ich kann das Karussell der Worte in meinem Kopf nicht stoppen. Ich kann nichts gegen das Meer aus Tränen machen. Gegen den Regen, der anfängt auf mich herabzufallen. Gegen den Wind, der versucht mir den Zeitungsartikel aus der Hand zu reißen. Ich kann nichts tun, außer mich rückwärts in den Sand fallen zu lassen.

❥︎..☁︎..★

Ich warte. Darauf auch zu ertrinken. Vielleicht in meinen Gefühlen und Emotionen, vielleicht in meinen Tränen, vielleicht im Regen. Sogar der Himmel weint mit mir.

Aber nichts davon geschieht. Eine lange Zeit liege ich da. Bis plötzlich: ,,Matt."

Ich richte mich auf, sehe wie mein Großvater sich zu mir kämpft. Es regnet und windet und es ist laut. Nicht nur in meinem Kopf.

Er hat eine Thermoskanne in der Hand und eine kleine Dose.

Ich laufe ihm entgegen, falle in seine Arme. Er drückt mich an seinen knochrigen Körper, der nach Zigarren riecht.

,,Wird es irgendwann weniger wehtun?"

,,Nein. Aber du wirst dich an den Schmerz gewöhnen," sagt er ehrlich. ,,Und du wirst dich an die schönsten Momente erinnern. Und diese Momente setzen die Teile deines Herzens langsam wieder zusammen."

❥︎..☁︎..★

Es fängt an zu dämmern. Es hört auf zu regnen.

Mein Großvater und ich trinken Tee, er hat die Dose geöffnet, hat die Bilder von meiner Kamera ausgedruckt. Wir schauen sie an. Ich weine nicht. Ich lächel. Sie sieht so hübsch darauf aus.

Ilayda im Wasser, mit einem schwimmenden Hut.

Ilayda auf dem Fußboden, umzingelt von Zeitungen.

Ilayda, schreibend auf der Düne, das Meer im Hintergrund.

Ilayda und ich, wie wir uns versucht haben zu fotografieren, in der Nacht der Sternschnuppen. Es ist sehr verschwommen. Trotzdem kann ich sie und mich lachen sehen.

Ilayda und ich, auf einem Bild, von dem ich bis jetzt nichts wusste. Mein Großvater hatte es fotografiert, als wir auf der Terasse saßen, mit Tee in der Hand.

Ich werde diese Bilder behalten. Für immer.

,,Danke," sage ich.

Er legt einen Arm um mich, nickt zu ihrem Tagebuch.

,,Von ihr?"

,,Ja."

,,Darf ich?"

Ich zögere. ,,Okay. Aber nur den letzten Eintrag."

Er nimmt es vorsichtig in die Hand, schlägt es auf. Liest. Ich beobachte. Weiß genau, was er liest.

Muss lächeln, als ich daran denke.

An den letzten Satz, den sie darunter geschrieben hat.

Nur einen Wellenschlag
entfernt von dir.

In Liebe,
Ilayda

𝐄𝐍𝐃𝐄

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