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GAGE

Der Weg zum Büro meines Vaters führt mich durch unendlich lange Flure, deren Wände mit Bildern von wichtigen, meist verstorbenen, Politikern behangen sind. Selbst solchen, die nicht in Kanada geboren, gelebt oder aufgewachsen sind. Jedes Portrait wird von einem goldenen Rahmen umgeben, der zu den gold-schimmernden Fußleisten und den teuren Vasen passt, die auf den Kommoden in dunkler Eiche weihnachtliche Gewächse zur Schau stellen.

Mit einem Mal habe ich die Gesichter der Besucher vor Augen, die monatlich durch das Rathaus wandeln und die glänzenden Flure mit offenen Mündern und verträumtem Funkeln in den Augen betrachten. Natürlich kommt niemand auf die Idee ihnen zu erzählen, dass weder echtes Gold an den Wänden noch an den Fußböden verarbeitet wurde. Vielmehr ist es beschichtetes Material, dessen Namen ich vergessen habe und das nur den Eindruck erweckt, unsere Stadt und die damit verbundene Gemeinde habe Geld.

Doch niemand scheint das zu hinterfragen. Die Besucher – hauptsächlich Touristen – nehmen den Anblick willig auf und wundern sich nicht darüber, dass sie bei all dem Prunk, der in diesem Haus herrscht, bei der Anfahrt an einer verwaisten Schule und einem Spielplatz vorbeigefahren sind, um dessen Fläche sich seit Jahren niemand gekümmert hat.

Bevor ich falsch verstanden werde: Es ist nicht alles Schein oder schlecht an unserer Stadt. Ich schätze sie und ihre kleinen Läden, die Kneipe, die letztes Jahr eröffnet hat und die einzige darstellt, die länger als sieben Monate überleben kann. Außerdem überzeugt unsere Stadt mit einer wunderschönen Landschaft, die besonders im Winter ihre Reize ausspielt. Wenn ich genau darüber nachdenke, kann ich verstehen, warum sich Menschen diesen Ort als Urlaubsort aussuchen.

Es geht allerdings um die Zeit, die sie hier verbringen. Nach spätestens zwei Wochen machen sie wieder kehrt, fahren zurück in ihr eigenes Leben und lassen diesen Ort hinter sich, der nicht mehr viel für sie zu bieten hat. Das ist mir bisher verwehrt geblieben.

Die lästigen Pflichten meines Vaters, die vermutlich aus sadistischer Veranlagung auf mich überträgt, fesseln mich an diese Stadt. Ich kann nur hoffen, dass meine Gebete erhört werden und ich bis zum nächsten Herbst genügend Geld angespart habe, um mir meinen Traum zu erfüllen. Die Selbstständigkeit als Fotograf.

Bis dahin heißt es Zähne zusammenbeißen und möglichst geschickt gegen die Fänge meines Vaters ankämpfen, die mich mit in die Politik ziehen wollen.

»Guten Morgen, Gage. Schön, dich zu sehen.« Ich biege in den Neubau des Rathauses ein, in dem mein Vater sein Büro, einen Konferenzraum und zwei kleinere Zimmer für Besucher oder Praktikanten eingerichtet hat, und stolpere dabei fast über Madison. Seit mein Vater die Wahl zum Bürgermeister vor zwei Jahren gewonnen hat, weicht sie ihm als Sekretärin kaum von der Seite.

»Gleichfalls«, brumme ich und bücke mich, um einen Stapel Papiere aufzuheben, die bei unserem Beinahe-Zusammenstoß heruntergefallen sind.

Die junge Frau geht ebenfalls vor mir in die Knie, streicht sich mit einer Hand die brustlangen, honigblonden Haare über die Schulter und nimmt dankend die Zettel von mir entgegen. Dabei treffen sich unsere Blicke. Ihre Augen strahlen in einem dunklen Braun, das mich an Schokolade erinnert. Es ist weich und vertrauenswürdig und war vermutlich der Grund, wegen dem mein Vater eine alleinerziehende Mutter anderen Kandidatinnen vorgezogen hat.

Fast gleichzeitig erheben wir uns und sie stolziert um den Schreibtisch herum. Dieser steht seitlich vor der großen Holztür, die zum Büro meines Vaters führt.

Als sie am Tisch Platz nimmt, gleitet mein Blick an ihrem Körper nach unten, bis er an einem kleinen Foto hängenbleibt. Auf diesem ist sie mit ihrer Tochter abgebildet, die wie jüngere Kopie von ihr aussieht. Sie lachen und halten selbstgebackene Kekse in die Kamera.

Kardamomherzen ₂₀₂₃ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt