།⁝ Der Sinkflug

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Verenice sollte inzwischen daran gewöhnt sein, unsanft geweckt zu werden. Dieses Mal lag sie auch unsanft, was es nicht besser machte.
Desorientiert blinzelte sie gegen die Holzdielen. Sie betrachtete die gesamte Inneneinrichtung ihrer Hütte von unten: Ihre Pritsche schien von hier aus schmaler zu sein, als sie war, und an der Unterseite des Esstischs fielen Verenice Flecken auf, deren Herkunft sie nicht erklären konnte. Wenn sie als Geißelspinne Augen hätte, würde die Welt wahrscheinlich so aussehen.

Füße stampften schwer über das Holz ihrer Terasse, es war mehr als ein Paar, und es wurde gesprochen. Das hatte sie also geweckt.
Ihr Körper strafte Verenice mit außerordentlichen Schmerzen, als sie sich hochstemmte. Eine Hand rutschte fast unter ihr weg. Sie hatte sich auf einem der zerrissenen Papiere aufgestützt. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Eimer zermatschter Früchte, und der vergangene Abend wurde darin untergerührt. Sogleich rollte eine Welle der Scham über Verenice hinweg. Sie lag in einem See aus durchgestrichenen, zerrupften und verschwendeten Blättern. Eins hatte sie mit ihrem Kohlenstift gespalten. Es sah aus wie ein Baum, in dem ein Blitz eingeschlagen war. Den entzwei geteilten Kohlenstift entdeckte Verenice unter dem Regal mit den Kochutensilien.

Mit einem Fluch auf den Lippen raufte sie ihre zerzausten Haare. Erst jetzt wurde ihr bewusst, welche Unmengen Papier sie verbuttert hatte. Obwohl darin eine Lüge steckte- ihr war es schon gestern bewusst gewesen, bloß nicht wichtig. Vor ihrem inneren Auge ließ Verenice Revue passieren, wie aufgebracht sie nach dem Streit mit ihren Eltern gewesen war, wie sie das mit einem Gedicht zu lindern versucht hatte, doch ihr Kopf wollte keine Reime formen und sie war aus der Haut gefahren und-
Ein Klopfen erschütterte die dünne Haustür. Blasse Umrisse waren dahinter zu erkennen. »Sofort öffnen! Falls jemand da drinnen ist, sofort öffnen!«

Plötzlich fiel es Verenice leicht, auf die Beine zu kommen. Wenn man mit Pixan zusammen war, lernte man schnell, wie jemand klang, mit dem man es sich verscherzt hatte. Und wie Wachen klangen, die einen Befehl ausführten, sollte man sowieso wissen.
»Einen Moment!«, erwiderte Verenice. Während sie panisch den Schutthaufen an Papieren zusammenschaufelte, kam sie bei bestem Willen nicht darauf, wen sie verärgert haben könnte.

War sie in letzter Zeit versehentlich gegen etwas gestoßen und hatte es kaputt gemacht, wie vor Jahren eine Skulptur vom Wert eines Säckchens Gold, deren Auslage blöderweise von gleicher Farbe wie der Boden war? Solchen eitlen Herren traute sie es zu, deswegen die Wachen zu rufen. Allerdings fiel ihr nicht ein, wann sie etwas dergleichen verbrochen haben sollte. Hatte Pixan mal wieder zu laut hinter dem Rücken von jemandem hergezogen? Würde Verenice diese Frau nicht so sehr lieben, könnte sie sich immer noch über die Sprints echauffieren, die sie deswegen hatten hinlegen müssen.
Aber in den vergangenen Wochen hatte sie noch etwas durch Pixans Weitsicht gelernt: Dass es bei Gefahr einen Unterschied machte, ob man vor ihr weglaufen konnte oder nicht. Der Zorn, den ein Skulpturen-Händler gegen Verenice hegte, konnte noch so groß sein, wenn sie wusste, dass sie ihn nach wenigen Sprüngen über die Felsen abgehängt hatten. Womit sie jetzt leben mussten, war eine andere Sorte von Gefahr.

Die Latrocina taten, was sie immer getan hatten. Sie nahmen die Dinge in die Hand, weil harte Arbeit ein gutes Leben ermöglichte. Verenice sah es in den ausgelaugten Gesichtern auf dem Marktplatz und auf Pixans Decke. Wohlgemerkt redete Verenice sich anfangs ein, dass es eine Täuschung war, dass Pixan immer weniger Kinder als Kunden hatte. Doch es ließ sich nicht leugnen. Gleichzeitig erledigten mehr kleine Kinder, die noch zu jung für die Minenarbeit waren, häufiger für ihre Eltern die Geschäfte und senkten den Altersdurchschnitt in der Dorfmitte stark. Es war, als hätte der Erdboden den Großteil ihres Clans verschluckt, und eigentlich traf das auch zu. Die Feiern in der Wohngemeinde waren leiser, die Kinder aus den Schächten wirkten auf einmal viel reifer als Verenice in ihrem Alter. Unnahbarer. Sie sprachen in ihren Gruppen über andere Dinge und ließen keinen leichten Plausch mehr zu, sodass Verenice sich wie eine Fremde unter ihren eigenen Leuten vorkam. Trotzdem wollte sie nicht mit denen tauschen, die man für die Arbeit eingezogen hatte. Von Woche zu Woche wurden ihre Augen trüber, als wären sie nur noch auf die dämmrigen Fackeln eingestellt und würden vom Sonnenlicht geblendet werden.

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