»Du kannst dich glücklich schätzen, dass man für die Prüfung nicht gut riechen muss«, murmelte Scarlett und Silva musste ihr zustimmen.
Sie hatte in dieser Nacht kein Auge zubekommen. Schweißgebadet hatte sie sich hin und her gewälzt, mit rasenden Gedanken und einem beklemmenden Gefühl in der Brust. In den letzten Wochen war es ihr immer öfter so ergangen, immer mit den gleichen plagenden Ängsten: Sie würde versagen. Sie würde ihre Familie enttäuschen. Sie würde bis zur nächsten Klausurprüfung warten müssen und Yumil derweil bereits in seiner Tiergestalt herumspazieren. Sie konnte sich nicht aus dem Kopf schlagen, dass sie plötzlich das Lesen verlernen würde, sobald sie ihren Aufgabenzettel bekam, oder schier alles an Wissen, das sie sich über die Jahre erarbeitet hatte.Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang hatte Silva gegen diese Kletten in sich angekämpft, aber es maximal zum Dösen gebracht. Sie war fix und fertig, bevor die Prüfung überhaupt anfing. Das Knistern des Feuers prickelte schmerzhaft in ihren Ohren und Silva starrte das Fischernetz an der Wand an, bis es aufhörte, sich zu drehen.
Als Mutter und Scarlett wach wurden, hatte sie sich schon die Haare geflochten. Silvas Schwester pochte darauf, dass ihr die Zöpfe schlecht gelungen wären und dröselte sie auf. Nun wickelte sich ein Kranz um ihre Schläfen wie eine Kobra, die ihr Nest bewachte. Scarlett hatte die Frisur mit Passionsblumen dekoriert und saß jetzt an der Gesichtsbemalung. Ihre Finger mit der kühlen, gelben Paste wischten von Silvas linker Wange zur rechten. Die Ränder fuhr sie mit Lehm nach, mit dem sie auch von den blauen Ringen unter den Augen ablenkte.»Wie lange es halten wird, ist fraglich, aber der Wille zählt«, sagte Scarlett zufrieden.
Silva zupfte sich die Bluse zurecht, die zu ihrer Bemalung passte. Es war eine ärmellose, feinmaschige Tracht aus Lamawolle und Pflanzenfasern, welche sie zusammen mit Scarlett für diesen Tag gewebt hatte. Silva fühlte sich besser darin, aber auch ein bisschen protzig. Meistens trug sie etwas Simples, womit sich der Alltag gut verrichten ließ: Lendenschurz, Röcke, knappe Oberteile und hier und da Ketten, wobei sie keine Ohrlöcher wie der Großteil besaß. Als kleines Kind hatte sie es probiert, aber beide Stellen entzündeten sich so schwer, dass Silva sie abheilen lassen musste und sich das Stechen von Nase und Wangen nicht auch noch antat. Jedenfalls wäre sie von selbst nie mit so einer Tracht durch den Dschungel gerannt. Manche Traditionen waren schon etwas dick aufgetragen.Sie wirbelte in ihren perfekt sitzenden Kleidern um die eigene Achse, so wie Scarlett vor drei Jahren in ihrer Bluse, bevor sie zur Klausurprüfung aufgebrochen war. Der Lehm auf Silvas Gesicht dämpfte die Hitze, welche von ihrem Inneren aufstieg.
»Sieh dich an«, sagte ihre Mutter voller Stolz und zog Silva zu sich. Scarlett schloss sich der Umarmung an.
»Du wirst es schaffen. So fleißig, wie du gepaukt hast, ist was anderes gar nicht möglich«, flüsterte die große Schwester ihr ins Haar.
Mutter schnaubte freundlich. »Du bist eine weitaus ehrgeizigere Schülerin, als ich es war.«
»Ich hatte auch Angst vor der Klausurprüfung. Das hat jeder. Aber sie verfliegt schnell«, versicherte ihr Scarlett. Silva ließ sich in die Umarmung sinken und war dankbar für die Ermutigungen. Auch wenn sie im Herzen beide wussten, dass es anders war.Silvas Angst war nicht die von »jedem.« Sie verflog nie. Sie ruhte nie. Sie schlich immer um sie herum, darauf lauernd, über Silva herzufallen. Es fing an mit dem Gefühl, klein zu sein, und mündete in Tränen-Sturzbäche, unkontrollierbarem Zittern und zu wenig Luft, viel zu wenig Luft. Sie hatte ihr schon unzählige Male verständnislose Blicke und beschämende Fragen eingebrockt, die sie mit noch so viel tapferen Aktionen bei den Gemeindehütern nicht ausgleichen konnte. Wenn die Angst Silva heute alles ruinierte, würde sie das nicht ausgleichen können, bis sie unter der Erde rottete. Dieses eine Mal durfte sie es nicht vermasseln.
Silva klemmte sich ihren Dolch an den Gürtel, den einzigen Gegenstand, welchen sie mitnehmen durften. Es mochte von außen ein gewöhnlicher Dolch sein, mit netten Maserungen und einer Menge Furchen auf der dunkelgrauen Klinge. Doch er war kein gewöhnlicher Dolch, sondern ein guter Freund.
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✾ Guardians of Duality ✾
Fantasi»Ich habe den Fehler begangen, gebleckte Zähne mit einem Lächeln zu verwechseln.« Origo ist bedeckt von dichten Regenwäldern, blauen Meeren und weiten Graslandschaften... und seine Bewohner teilen sich die Seele von Mensch und Tier im selben Körper...