꧁༺ 9. 𝓓𝓮𝔃𝓮𝓶𝓫𝓮𝓻 ༻꧂

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Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit stellte Rose ihren rechten Ellbogen auf der Tischplatte  und stützte ihre Wange auf der Hand ab.
Marshall erzählte ihr von seiner gescheiterten Ehe und obwohl es ein ernstes Thema war und sie ihm zuhören wollte, schweiften ihre Gedanken ab. Marshall hatte eine sehr angenehme Stimme. Sehr ruhig und tief. Und sehr beruhigend.
Rose musste zugeben, dass sie ihm stundenlang zuhören könnte.
Er erzählte von unterschiedlichen Arbeitszeiten und dass seine Frau und er sich auseinandergelebt hatten. Doch er merkte auch vorher schon, dass sie beide unterschiedliche Ansichten hatten, vor allem was Familie anging.
Während er sprach, richtete er zwei Teller mit Brötchen und Muffins. Nach einer Weile lächelte er und kam zu ihr an den Tisch.
„Ich denke, du schuldest mir nun deine Geschichte."
Sie seufzte und nahm erst einen Bissen ihres Brötchens.
Er stand noch einmal auf und holte noch Milch aus dem Kühlschrank.
„Kaffee willst du ja keinen."
Sie nickte, denn sonst könnte sie den Schlaf heute Nacht vergessen.
Er setzte sich ihr gegenüber und biss herzhaft in sein Brötchen. Dabei sah er sie gespannt an.
„Du hast bestimmt schon von meinem Ruf gehört.", begann sie.
Er nickte.
„Ja. Einer meiner Angestellten warnte mich eindringlich vor dir und erklärte, dass du hinter reichen Männern her wärst."
Sie starrte ihn an und war verblüfft wegen seiner Ehrlichkeit.
„Das war mal wirklich hart."
Er nickte.
„Das fand ich auch. Deswegen habe ich ihr gleich zu verstehen gegeben, dass ich Leute erst einmal kennenlerne, bevor ich mir ein Urteil bilde und es nicht umgekehrt handhabe."
Sie nickte ihm zu.
„Sehr löblich. Aber ich bin das Gerede gewöhnt."
Er neigte seinen Kopf zur Seite.
„Wie kam es denn zu diesen Gerüchten?"
Sie seufzte leise.
„Neid, nehme ich mal an. Ich bin die älteste der Harris-Schwestern und ging demnach zuerst auf das College. Ich wurde Buchhalterin und machte einige Praktika, bis ich in einem Betrieb einen Job annahm, der gut bezahlt wurde. Durch Zufall wurde ich die Assistentin des CEO und begleitete ihn ab und zu auf Partys. Ich schickte meinen Schwestern oft mal Bilder von den Kleidern, die ich trug und die zeigten es ihren Freundinnen."
Er nickte.
„Ich verstehe. Daher der Neid."
Rose zupfte leicht an ihrem Muffin und betrachtete die Krümel, die auf den Teller fielen.
„Auf einer der Partys lernte ich Timothy kennen. Timothy ist Anwalt in der Kanzlei seines Vaters. Ich bin ihm leider schnell aufgefallen und er umgarnte mich. Verstehe mich nicht falsch. Ich wusste nichts von ihm. Auch nicht, dass seine Familie reich war. Es schmeichelte mir einfach nur, dass er sich so für mich interessierte."
Sie drehte gedankenverloren ihren Muffin.
„Er redete mit mir, als andere mich einfach übersahen. Er lachte über lustige Bemerkungen und ihm schien meine Schüchternheit zu gefallen. Ich ahnte nicht, dass er mich für eine geeignete Kandidatin hielt. Eine Frau, die er nach seinem Willen formen konnte. Eine Frau, die schön an seiner Seite aussah, die nicht gerade dumm war und die großzügig über sein Fehlverhalten, wie zum Beispiel zahlreiche Affären hinwegsah, da sie von ihm ja alles bekam, was man mit Geld kaufen konnte."
Sie hörte ihn leise schnauben.
„Hat er das tatsächlich gesagt?", hakte er nach.
Sie nickte.
„Aber erst viel später. Am Anfang war ich wirklich sehr fasziniert von ihm. Er schmeichelte mir, machte mir kleine Geschenke und ging mit mir aus, so oft er konnte. Irgendwann waren wir offiziell ein Paar. Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass er mich abchecken ließ."
Marshall runzelte die Stirn.
„Abchecken?"
„Er beauftragte einen Privatdetektiv, der herausfinden sollte, ob ich auch wirklich die Wahrheit erzählte. Seine Freunde beobachteten, wie ich mich an seiner Seite so anstellte. Offenbar war ich erst einmal genehmigt, auch wenn ich nicht perfekt war."
Sie seufzte.
„Das Schlimme an der ganzen Sache ist nicht nur, dass ich es erst einmal nicht bemerkte, sondern dass ich ihn verteidigte, als ich es erfuhr."
Er hob nun eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu, was sie ihm hoch anrechnete.
„Es ging aber immer weiter und es wurde schlimmer. Wir zogen schnell zusammen. Zuerst dachte ich, es ist romantisch und er wolle so oft wie möglich mit mir zusammen sein. Nun weiß ich, dass er mich weiter formte. Er kontrollierte meine Kleidung, mein Essverhalten, meine Freizeitaktivitäten. Immer wieder meinte er, er würde es ja nur gut mit mir meinen, aber das war nicht so. Seine Pläne setzte er hoch an. Als Anwalt wollte er zuerst die Kanzlei seines Vaters übernehmen. Gleichzeitig trieb er die politische Kariere voran, indem er sich mit wichtigen Männern und Frauen traf. Ich war natürlich immer an seiner Seite. Oder besser gesagt, ich stand immer hinter ihm. Wortwörtlich. Ich versuchte, ihn zu unterstützen. Wenn es ihm schlecht ging, tröstete ich ihn. Ich erfüllte all seine Wünsche, auch wenn es mir manchmal zuwider war. Doch dann kam der Tag, an dem ich feststellte, dass ich Archer in mir trug. In meinem Unverstand freute ich mich auf mein Baby. Timothys Freunde schwängerten ihre Frauen und Freundinnen reihenweise, also würde er sich doch auch freuen. Aber nein, das tat er nicht. Er machte mir stattdessen Vorwürfe und beschuldigte mich, ihn damit in eine Falle locken zu wollen. Es artete soweit aus, dass er mich mitten in der Nacht aus seiner Wohnung warf. Ich durfte nur eine kleine Tasche mit den notwendigsten Dingen packen, dann musste ich verschwinden. Da war ich nun. Kein Job, denn das fand er nicht passend, Als wir noch ein Paar waren. Kein Zuhause und nur so viel Geld, dass ich mir ein Zugticket nach Hause leisten konnte. Mein Vater, dem Timothy immer zuwider war, nahm mich auf, ohne mir Vorwürfe zu machen. Aber das erledigten andere. Diese Gerüchte, dass ich eine Goldgräberin wäre, wurden immer lauter, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Ich wagte mich nicht einmal mehr in die Stadt. Das Gerede klang ab, wurde aber wieder lauter, als ich Archer in die Vorschule anmeldete. Man erinnerte sich wieder daran, dass ich schwanger zurückkam und es keinen Vater zu dem Kind gab. Seitdem lebe ich damit oder ich versuche es. Es gibt immer wieder jemanden, der dafür sorgt, dass niemand vergisst, dass ich eine üble Goldgräberin bin. Ich kann es nicht ändern. Meine Schwestern übernehmen die Gänge in die Stadt, damit ich zu Hause bleiben kann. Bisher ließen sie Archie in Ruhe und ich hoffe, dass das so bleibt. Aber ich versuche mich von der Stadt fernzuhalten."
Er nahm sanft ihre Hand in seine.
„Und doch bist du hier."
Sie lächelte schüchtern.
„Ich bin hier, weil es dunkel ist und mich niemand sieht."
Er schnaubte.
„Irgendwann wird man dich sehen, Rose. Und man wird sehen, was für eine tolle Frau du bist. Ich habe es schon bald erkannt. Das werden die anderen auch."

Da war sich Rose nicht so sicher.

Winterwonderland - Adventskalender 2023Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt