47. Winternacht // Moondancer

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„Hat sie mit dir gesprochen?", fragte Mario traurig und starrte in die Richtung des Kreuzes. Ich nickte. „Aber warum kann sie nicht mit dir reden? Ich meine, sie liebt dich immer noch. Sie weint um dich, es quält sie, dich nur ansehen z-" „Stop!", unterbrach mich mein Meister und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er atmete tief durch, beruhigte sich wieder und mir wurde klar, dass ich ihn gerade ebenfalls schmerzlich daran erinnert hatte. „Es tut mir Leid... Ich wollte das nicht.", murmelte ich bedrückt. „Schon gut... Es ist nur so... Ich mag so alt sein, doch ich konnte sie nie loslassen. Weißt du, wenn du jemanden wirklich liebst, dann tust du das bis an dein Lebensende... Doch das Schlimme ist, ich konnte nicht einmal richtig mit ihr abschließen. Sie ist einfach gegangen.", er seufzte. „Aber, um endlich deine Frage zu beantworten... Ich bin nur ein Mensch, sie kann nicht zu jedem reden. Doch dafür mache ich das oft genug.", er lächelte gequält in die Richtung, an der vorhin noch Nathalie saß.

„Aber komm jetzt, ich bringe dich nach Hause, bevor ich wieder die Nacht an ihrem Grab verbringe und sie mit belanglosen Dingen nerve...", er machte eine kurze Pause, „Darf ich?", fragte er dann und deutete auf meinen Rücken. „Mhm.", bestätigte ich abwesend und ging etwas in die Knie, damit es ihm leichter fiel. Kaum, dass er auf mir saß, spürte ich einen vertrauten Windhauch an der Wange.

„Du weißt, dass du immer willkommen bist, Mario...", murmelte Nathalies Stimme an meinem Ohr und vor Schreck machte ich einen kleinen Satz zur Seite. Mein Reiter schien ihre Anwesenheit zwar mitbekommen zu haben, doch konnte ihren Satz nicht empfangen. Es tut mir leid, Mario. Ich wünschte, ich könnte dir helfen..., war das Letzte woran ich dachte, dann schaltete ich meinen menschlichen Verstand aus und vertraute mich ganz Marios klaren Hilfen an. Er würde mich schon sicher zum Hof bringen, ich vertraute ihm. Zumindest jetzt, nachdem mir klar geworden war, warum er so handelte, wie er es tat. Warum er keine Beziehung mehr führen konnte, warum er versuchte, Marco und mich auseinander zu bringen. Er hing zu sehr an ihr. Seinem Mädchen aus längst vergangenen Zeiten. Sie war seit über 18 Jahren tot, das wusste ich. Und obwohl sie aussah wie Mitte 20, so war sie doch auch so alt wie er. Wenn nicht sogar älter. Ein Teil unseres Fluches. So jung auszusehen und doch so alt zu sein. Ich wusste nicht, wie lange sie zusammen gewesen waren. Aber ich ahnte, dass es lange war. Vielleicht mindestens zehn Jahre...

Sobald wir wieder zurück auf den Hof kamen, wurde mein Meister wieder ganz der Alte. Kein Fünkchen der Schwäche, die er soeben gezeigt hatte, war noch da. So wie wir ihn kannte. Er rutschte von meinem Rücken, sah mich ernst an. „Alles, was in den letzten zwei Stunden passiert ist, bleibt unter uns, ja? Die Sache mit Nathalie ist mir wichtig, ich möchte nicht, dass das irgendjemand erfährt. Sie ist und bleibt meine persönliche Angelegenheit. Dass du heute zu ihr durftest, war eine bestimmte Ausnahme. Niemand muss wissen, dass ihr Geist noch da ist. Ihr Scheingrab liegt auf einem Friedhof in Nordparis. Doch das ist leer, das kannst du dir ja denken. Also: Ich bitte dich, lass das eine Sache zwischen uns sein, ok?" Ich blickte ihm genauso ehrlich in die Augen und nickte. „Verstanden." „Gut.", meinte er dann, drehte sich um und stapfte in die Richtung des Hauses. „Du hast noch ein paar Stunden, nutze sie, wie du willst. Neben Jovito habe ich eine Box für heute leergemacht, da liegen auch ein paar Decken, wenn du schlafen willst. Die Türen dorthin sind alle auf. Aber ich muss jetzt dringend schlafen gehen.", er gähnte herzhaft und ich folgte seinen Bewegungen, bis er im Haus verschwunden war. Vito. Ich hatte ihn eindeutig vernachlässigt.

Als ich durch die Stallgasse lief, neigten einige Pferde automatisch respektvoll den Kopf. Jedes Mal verzog ich mein Gesicht dabei, doch dass ich gegen meine Aura nichts machen konnte, war mir klar. Vito scharrte aufgeregt mit dem Huf und erwartete mich ungeduldig. Kaum war ich an seiner Box, begrüßte er mich stürmisch. Er drückte liebevoll seinen Kopf gegen meinen Hals und seufzte zufrieden. „Ich habe dich vermisst...", murmelte er, sobald er sich wieder beruhigt hatte. „Nicht zu übersehen.", antwortete ich belustigt und tauchte unter seiner Schmuseattacke hindurch. „Lass uns rausgehen. Hier drin fühle ich mich nur eingeengt..." Mit den Zähnen machte ich mich an dem Öffnungsmechanismus seiner Tür zu schaffen. Dass das als Pferd bedeutend schwerer ging als in der Gestalt eines Menschen wurde mir einmal mehr bewusst. Es hatte eben nicht nur Vorteile. Jedoch brauchte ich nicht allzu lange und kurz darauf war mein Falbe frei. Nevado, der schräg gegenüber stand, blickte uns neidisch nach, als ich mit ihm den Stall verließ. Überrascht stellte ich fest, dass er gar nicht so hyperaktiv war wie sonst. Fast wirkte er sogar ausgeglichen, doch über den Grund wollte ich jetzt nicht nachdenken. Ich stand mit Vito an meiner Seite in der kühlen Winternacht und wir hatten alle Möglichkeiten offen.

Zufrieden brummelte ich, es gab nichts Schöneres als eine Vollmondnacht im Winter. Der Schnee glitzerte dann ganz anders als tagsüber. Eher schlicht, doch gleichzeitig so magisch. Im schwachen Mondlicht wirkte sowieso alles so verschieden. Im Vergleich zum langweiligen Tag, an dem nur die Sonne meinte, sie müsse all die weiße Pracht wieder wegmachen. Gemütlich setzte ich mich in Bewegung, genoss das Knirschen des Schnees unter meinen Hufen. Wie ich bei jedem Schritt etwas einsank und die angenehme Kühle an meinem Bein spürte. Ich hörte, wie der Hengst etwas weiter hinten folgte. Je weiter ich im Schritt über den Hof lief und je näher ich dem offenen Gelände näher kam, desto mehr begann es in mir zu kribbeln. Es war der vertraute Drang eines Pferdes. Laufen, frei sein. Das, was so vielen Pferden in Boxenhaltung verwehrt war. Ich wusste nicht, wie man das als Schulpferd oder als langweiliges Dressurtier aushalten sollte. Ich würde in den vier Wänden auf Dauer verrückt werden. Und genau, weil ich das wusste, ließ ich meine Pferde so oft wie möglich frei rennen. Sie mussten auch so schon lange genug in der Box stehen.

„Jovito?", fragte ich leise und blieb am Rande eines geräumigen Feldes stehen. Er schloss auf meine Höhe auf. „Ja?" „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich sehe vor mir ein unberührtes Schneefeld, das nur darauf wartet, von Vierbeinern zerstört zu werden." „Dann denken wir das Gleiche.", er zwinkerte mir zu. Gleichzeitig und Kopf an Kopf übergaben wir uns den gewaltigen Kräften in unseren Körpern. Ausdauer, die sich ein Mensch nicht einmal zu erträumen wagte. Eine Geschwindigkeit, bei der nur eine Maschine mithalten konnte. Und mit einer Sprungkraft in den Beinen, an die selbst gute Leichtathleten nicht einmal ansatzweise heran kamen. Ich spürte das leichte Ziepen, als der Wind, den ich erzeugte, an meiner Mähne riss. Ich spürte den weichen Boden unter mir, der es nicht wagte, mich irgendwie zu stoppen. Und meine Nüstern, die sich weiteten, um den Sauerstoff schneller in meinen Körper zu pumpen. Mein Herz jagte in derselben Geschwindigkeit wie meine Beine. Und doch verspürte ich keine Müdigkeit. Stattdessen ließ ich zu, dass die kühle Luft alle Gedanken fort wehte und mich von innen befreite. Alles Schlechte einfach hinaus spülte. Ich hätte ewig so weiterrennen, hätte ich nicht aus den Augenwinkeln gesehen, wie mein Laufpartner anfing, schlapp zu werden. Im Gegensatz zu mir konnte er auch nicht von der unendlichen Energie der Erde nähren.

Also verlangsamte ich mein Tempo, fiel in einen ruhigen, gleichmäßigen Galopp, damit wir langsam auslaufen konnten. Schließlich war es nicht gut für den Körper, wenn man nach so einem Sprint abrupt bremste. Ich hörte, wie Vitos Atmen schwer ging, er schnaufte schwer, doch wirkte mindestens genauso glücklich, wie ich mich fühlte. Seine dunklen Augen glitzerten vor Freude und er drückte seine Begeisterung in seinen schwungvollen, motivierten Bewegungen aus. Wir drehten um, damit wir uns nicht allzu weit vom Hof entfernten. Den Rückweg legten wir im Schritt zurück. Schlenderten gemütlich über das Gelände und lebten im Moment. Und dieser Moment bedeutete Glück, Zufriedenheit, Vollkommenheit. Wenn ich ein Pferd war, dann rutschte sogar Marco in den Hintergrund. All die Arbeit, all die Sorgen... Einfach weg. Für mich waren diese Vollmondnächte stets das Paradies. Mein kleiner, aber feiner Himmel auf Erden.

Erst als ich am Boden in der Box lag, die Mario vorbereitet hatte, verwandelte sich dieses Gefühl in eine Art traurige Melancholie. Warum mussten solche Momente auch immer vergehen? Warum gab es überhaupt Zeit? Zeit, die uns unnötig einschränkt und begrenzt. Die uns dazu antreibt, immer schneller zu werden und so viel wie möglich zu schaffen, bevor man stirbt. Dabei würde nie irgendjemand etwas Besonderes schaffen, dafür war die Lebensdauer eines Menschen viel zu kurz. Was waren wir überhaupt auf der Erde? Selbst ein Schiller würde in 1000 Jahren vielleicht nicht mehr interessant sein. Dabei war das im Vergleich zu dem gewaltigen Alter des Planeten und seiner Geschichte gerade einmal ein Wimpernschlag.

So darüber nachdenkend schloss ich die Augen. Schlaf würde nicht schaden. Das letzte was ich hörte, bevor ich einschlief war eine vertraute Stimme an meinem Ohr. Es war niemanden, den ich auf Anhieb benennen konnte, doch trotzdem kam sie mir bekannt vor.

„Pass auf dich auf. Bleib am Leben, kämpfe für unsere Art. Es tut mir leid."


Moondancer - Maître des ChevauxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt