19 Andrés - Das Meer singt deinen Namen

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Andrés wartete darauf, dass Maila erkennen würde, wohin sie gerade unterwegs waren. So langsam wurde das Terrain immer vertrauter, auch wenn er zugeben musste, dass sie normalerweise immer von der anderen Seite her zu den Klippen geritten waren.

Eine Hand auf dem Hinterzwiesel des Sattels abstützend, drehte er sich nach hinten zu Maila und Mariposa um. Der Schimmel folgte Chicago mit eifrig gespitzten Ohren, die kurze Mähne flatterte verwegen im Wind und verlieh dem Ausdruck der Stute einen gewissen Schalk. Maila hatte ein nostalgisches Lächeln im Gesicht, schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. In den langen, blonden Strähnen ihrer Haare spielte der Wind wie in den ersten goldenen Ähren der Weizenfelder.

Er vermisste die Tage, an denen es selbstverständlich gewesen war, sie zu berühren. Und Andrés mochte die momentane Unsicherheit, die in jeder ihrer Unterhaltungen zu spüren war, nicht. Er mochte es genauso wenig, dass er bei jedem seiner Worte überlegte, ob er das so sagen konnte, und wie sie es wohl auffassen würde. Die Leichtigkeit, diese absolute Vertrautheit, die einmal jede ihre Handlungen begleitet hatte, fehlte inzwischen schmerzlich. Ihm war aber auch bewusst, dass für diese Vertrautheit Offenheit notwendig war. Und mit der Offenheit verbunden war seine absolut verhasste Verletzlichkeit.

Er fragte sich, warum er sich genau diesen Ort ausgesucht hatte als gemeinsames Ausflugsziel, wobei die eigentliche Frage, die er sich stellen müsste, eigentlich wäre, warum er so einen Aufwand betrieb, um mit seiner unzähligen Male Ex-Freundin einen Tag zu verbringen. Und das, an dem Ort, an dem ihre gemeinsame Zukunft eigentlich erst so richtig angefangen hatte, in diesem ersten Sommer. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er sich für die Klippen entschieden hatte – um an den Anfang zurückzukehren. Chicago nutzte die geistige Abwesenheit seines Reiters um nach dem frischen Grün am Wegesrand zu angeln. Der Wald wurde langsam dichter, und das Blätterdach über ihnen verdichtete sich bis zu dem Punkt, dass die Sonne nur noch schwache Lichtstreifen auf den Waldboden warf.

Andrés ließ sein Pferd gewähren, hing in Gedanken bei der Frage fest, ob er gerne die Zeit zurück drehen würde, was und ob er mit der heutigen Retroperspektive anders handeln würde. Die Antwort wäre ja, er würde sehr viel anders machen, aber er stellte fest, dass dieser Gedankengang sowieso sinnlos war, weil er die Zeit und seine Handlungen nicht zurück drehen und zurück nehmen konnte.

„Wie geht es dir?". Warf er dann die Frage in die Stille des Vormittags. Letzte verblühte Knospen hingen noch an einzelnen Bäumen, das Grün der neuen Triebe noch frisch und unverblasst von der Sonne.

„Wie meinst du diese Frage?", kam die Antwort von hinten. Andrés drehte sich halb um, um ihre Mimik lesen zu können. Hauptsächlich stand Verwirrung ihr ins Gesicht geschrieben, er bildete sich aber auch einen Hauch von Misstrauen ein.

„Wie auch immer du diese Frage beantworten möchtest." Das war seine sehr diplomatische Antwort.

„Kommt drauf an. Das müssten wir unterscheiden in beruflich und privat. Beruflich bin ich angekommen, ich mag die Arbeit mit Liam und den ‚Kindern'", sie machte Anführungszeichen mit einer Hand, und Andrés drehte sich dann doch mal wieder nach vorne, als ihn ein niedrig hängender Ast fast vom Pferd holte.
„Manchmal frage ich mich, ob das, was ich mache, genug Einfluss und Purpose hat – für mich, und vor allem auch für die Teilnehmer. Beispielsweise Ronja und Josh, ja ich verbessere ihren Sommer mit, aber nachhaltig löst es das Problem halt in keiner Weise. Die Welt ist deswegen in keiner Weise fairer."

Andrés mhmte nur, wollte sie nicht unterbrechen, auch wenn er schon fünf Antworten auf diese Aussage hin auf der Zunge liegen hatte.

„Ich bin unzufrieden. Darüber, dass ich das Schreiben, und damit auch einen Teil von mir ein bisschen sehr verloren habe, ich weiß aber nicht, wohin die Muse ist, und ich weiß nicht, wie ich sie wieder finden soll. Ich würde aber gerne wieder schreiben", er hörte sie quasi fast mit den Augen rollen. Chicago stapfte mit eiligen Schritten den kurvigen Pfad bergauf und versuchte jede Kurve anzuschneiden, wogegen Andrés etwas hatte, da dies seine Knie gefährlich eng an Bäumen vorbeischrammen ließ. Der Fuchs war jedoch unbeirrt, und versuchte die nächste Kehre noch mehr anzuschneiden, weil dann musste das Pferd sich ja weniger in den Rippen biegen.

Hufspuren im HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt