Als Andrés wach wurde, hing die Dämmerung noch im Zelt. Gegen den dünnen Stoff der Zeltwand zeichnete sich die erste Helligkeit der aufgehenden Sonne ab, und auf der Seite stand die Silhouette eines Pferdes wie ein Wachhund vor dem Zelt und graste. Das Rupfen der Zähne an den Grashalmen hörte er deutlich in der Stille des Morgens, begleitet von Mailas leisem Atem neben ihm und den dem Zwitschern der Vögel in den Bäumen. Einer ihrer Arme lag über seinem Brustkorb, und den anderen verwendete sie als Kopfkissen, ihre langen Haare ihr Gesicht verdeckend.
Andrés wusste nicht genau, was es auslöste, aber ihm war gerade alles zu viel. Zu eng, zu nah, zu wenig Luft im Zelt und in seinem Brustkorb. Zu viele Gedanken im Kopf, die gerade viel zu schnell im Kreis rauschten, zu viel Stress in seinen Adern und zu viel Anspannung in seinen Muskeln. Vorsichtig, darauf bedacht sie nicht zu wecken, löste er sich von ihr und der Einschränkung der Decke. Mit zwei leisen, aber langen Schritten war er im Vorraum des Zeltes, zog sich an und aufgrund der frischen Temperatur der Nacht einen Pullover über. Den Reißverschluss öffnend stand Andrés im Morgentau, vor ihm verscheuchten in einem noch blassen Gelb die ersten Sonnenstrahlen das Dunkel der Nacht.
Chicago verfolgte ihn bis an den Rand des Camping Platzes, an dem sich vor ihnen öffnend die Weite des Strandes erstreckte. Andrés hatte erst jetzt wieder das Gefühl, frei atmen zu können, dass der Geruch des Salzes in der Luft ihm ermöglichte, zumindest sein Gedankenchaos ein bisschen in geordnetere Bahnen zu leiten. Das Meer rollte in leichten Wellen heran, und Andrés lehnte sich gegen den Holzzaun, der Morgensonne entgegen.
Der dunkle Fuchs schien zu merken, dass nicht mit Aufmerksamkeit für ihn zu rechnen war, und graste neben Andrés. Andrés seufzte, und versuchte seine Gedanken und Gefühle zu sortieren.
Gestern noch war ihm jegliche Distanz zwischen Maila und ihm als zu viel vorgekommen, hatte er sich danach gesehnt ihr emotional und körperlich nur so nahe zu kommen, wie das möglich war. Jetzt und heute war ihm alles andere viel zu viel. Er hatte doch noch so viele Fragen und so wenige Antworten über sich, und über sein Leben, wie sollte er da noch Platz finden für all die offenen Punkte, die Maila und ihn noch betrafen?
Wenn er dieses unsortierte Chaos seines Lebens noch durch eine Beziehung ergänzte, dann – ja, dann wäre endgültig Land unter. Vor allem, weil er nicht wusste, wie sie die letzten verbliebenen offenen Themen und Jahre noch ansprechen sollten, die sie gemeinsam gehabt hatten, denn diese hatten den größten potenziellen Sprengstoff. Und dieser Funke, der sie beide noch verband, der hatte auch das Potenzial das alles, was sie sich über den Sommer hinweg bisher erarbeitet hatten, dieses gemeinsame Verständnis über ihre vergangene Beziehung, ganz schnell wieder in Flammen aufgehen zu lassen.
Andrés hatte sich nach der Nähe gesehnt und jetzt machte sie ihm Angst. Die Insel schien ihm zu klein zu sein für die ganzen Gefühle in ihm. Gefühlt war die ganze Welt dafür nicht groß genug.
Auf der Höhe seines Bauchnabels schob ihn eine Hand vom Zaun weg, und überrascht zuckte er zusammen, als zusammen mit der Bewegung Maila vor ihm auftauchte. Ihn kurz sehr fragend musterte, ihre blauen Augen schienen zwanzig Fragen gleichzeitig zu stellen, bevor sie ihm ein mitfühlendes Lächeln schenkte.
Damit schlang sie ihre Arme um ihn, und legte ihren Kopf an seine Brust.
„Hör auf zu denken", murmelte sie dann in seinen Pullover. „Kannst du nicht einfach nur dem Meer und meinen Atemzügen lauschen?"
Das klang nach einem Vorschlag, der zumindest einen Versuch wert war. Andrés versuchte nicht an die Nähe, und an die Panik, und all die Fragen zu denken und fokussierte sich auf die blonden Strähnen, in denen der Wind leicht spielte und die sich in seinen Bartstoppeln verfingen. Fokussierte sich auf ihren ruhigen Atem und auf ihren vertrauten Körper in seinen Armen. Auf die Wellen hinter ihnen, und Chicagos Grasen neben sich.
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Hufspuren im Herz
Teen FictionEs wird Sommer. Der erste seit langem, den Andrés wieder nur mit Pferden verbringen wird. Mit dem Uni- Abschluss in der Tasche, kann er der Einladung, als Trainer dort hin zurück zu kehren, wo der letzte Pferdesommer endete, nicht widerstehen. Es...