Mitternachtsspaziergang

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Loi stand auf dem Felsen, den Kopf in den Nacken gelegt und die Arme ausgebreitet. Mondschein floss durch die Blätter zu ihr hinab und erhellte ihr Gesicht. Der sanfte Wind spielte mit ihrem Haar und ihrem Kleid, wisperte in den Bäumen, die sie umgaben, flüsterte über die Geheimnisse des Waldes. Loi lachte. Es kam nur selten vor, dass sie es sich erlaubte, so frei zu sein, eigentlich nur zu Zeiten wie diesen – tief in der Nacht, wenn sie sich traute, sich vom Dorf fortzuschleichen und fast zwölf Kilometer weit zu laufen, bis zu diesem Felsen mitten im Wald. Dies war ihr Ort, und ihrer allein.

Lois Kleid flog, als sie einen Satz nach vorne machte und sprang. Der Wind rauschte in ihren Ohren, der Boden kam mit schwindelerregender Geschwindigkeit näher, und doch schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie auf dem Waldboden aufkam und sich abrollte. Sie kam wieder auf die Füße und wandte sich um, blickte auf zu dem Felsen, auf dem sie bis eben noch gestanden hatte und der jetzt mehrere Körperlängen über ihr aufragte. Ihre Hand hob sich wie zu einem Gruß, dann fuhr sie herum und rannte los.

Der Wald war schon immer Lois engster Vertrauter gewesen, und in Nächten wie dieser spürte sie es besonders deutlich. Wenn sie niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte, dann kam sie hierher. Sie konnte rennen, so schnell wie die Rehe, die sich auf ihrer Lichtung zum Schlafen niedergelassen hatten. Sie konnte springen, hoch und weit genug, um im Spätsommer den Dorfbach zu überqueren. Sie konnte auf Bäume und Felsen klettern und ihre Frustration zum Himmel hinaufschreien. Niemand würde sie hören außer dem Wald.

Heute rannte sie. Ihr Weg führte sie weiter vom Dorf weg, um das Risiko, gesehen zu werden, noch mehr zu verringern. Wenn sie wenigstens etwas Schlaf bekommen wollte, hatte sie nicht lange Zeit. Aber etwas zog sie hinaus in den Wald, in die samtene Nacht, fort von dem Dorf, in das sie noch nicht zurückkehren wollte.

Ein Ast streifte Lois Schulter und riss an ihrem Kleid. Sie blieb stehen und fluchte, als sie das Loch inspizierte. Das hätte sich vermeiden lassen. Es war hell genug, um perfekt zu sehen, zumindest für sie. Sie hatte bloß nicht hingeschaut. Es bedeutete, dass sie vorsichtig sein musste, wenn sie zurückkam. Janina fiel alles auf, und Loi konnte auch ihr nichts von ihren nächtlichen Ausflügen erzählen. Sie fluchte erneut – und erstarrte.

„Hallo?", rief sie. „Ist da wer?"

Einen Moment lang blieb alles ruhig. Loi griff nach dem Messer an ihrem Gürtel und wünschte, sie hätte eine richtige Waffe dabei. Auf der anderen Seite würde sie die kaum brauchen, nicht gegen einen Menschen.

„Hallo?"

Noch immer kam keine Antwort zurück. Loi hatte sich schon fast davon überzeugt, dass es wohl bloß ein Tier gewesen war, als der Wind ein leises Wimmern zu ihr herübertrug. Kein Tier. Eindeutig ein Mensch, und zwar ein Verletzter. Wie war er bloß hierhergekommen, soweit draußen? War er angegriffen worden?

Loi zog ihr Messer aus dem Gürtel und machte sich auf die Suche.

Der Fremde lag auf dem Bauch am unteren Ende eines leichten Abhangs

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Der Fremde lag auf dem Bauch am unteren Ende eines leichten Abhangs. Sobald Loi ihn entdeckt hatte, machte sie einige Schritte zurück und sah sich vorsichtig um, dann begann sie ihn in einigem Abstand zu umkreisen. Er war allein. Loi fand nur eine Spur, die auf ihn zuführte, ungleichmäßige Fußstapfen, die am oberen Ende des Hanges aufhörten, wo er gefallen und hinuntergerollt war. Nichts deutete darauf hin, dass noch jemand anderes hier gewesen war, weder Angreifer noch Freunde auf der Suche nach Hilfe. Als sie sich überzeugt hatte, dass ihr keine Gefahr drohte, begann sie sich dem Mann zu nähern. Sie ließ sich neben ihm nieder, das Messer immer noch in der Hand und bereit, es zu nutzen, falls es nötig werden sollte. Mit einem schnellen Blick suchte sie ihn nach Waffen ab, konnte aber bis auf eine leere Schwertscheide am Gürtel nichts finden. Das Schwert war nirgends zu sehen, und der Mann war ohnehin in keiner Verfassung, ihr irgendetwas anzutun. Er war kaum bei Bewusstsein, seine Augen waren geschlossen und er schien Schwierigkeiten zu haben, genug Luft zu bekommen. Loi packte ihn an Schulter und Hüfte und drehte ihn um. Als der Fremde auf dem Rücken zu liegen kam, riss sie die Augen auf: die ganze Vorderseite seiner Tunika war blutdurchtränkt. Quer über den Oberkörper des Fremden zog sich ein tiefer Riss mit ausgefransten Rändern, aus dem mit besorgniserregender Geschwindigkeit weiter Blut quoll. Das war ein Schwerthieb, wenn Loi jemals einen gesehen hatte. Es war ein Wunder, dass der Mann überhaupt noch lebte.

Ihr erster Impuls war, aufzuspringen und das Weite zu suchen. Sie hatte keine Spuren gefunden, aber das hieß nicht, dass der Täter nicht noch immer in der Gegend war. Loi war stark, aber gegen ein Schwert konnte sie mit ihrem Messer nichts ausrichten. Auch wenn der Täter ein Mensch war, eine falsche Bewegung von ihr, ein Zögern konnte bedeuten, dass er sie erwischte. Es war zu gefährlich.

Sie hatte sich schon umgedreht und wollte gehen, als ein Stöhnen hinter ihr sie innehalten ließ. Dann murmelte er etwas, kaum hörbar über dem Rauschen der Blätter. Unschlüssig blieb Loi stehen.

„Bitte...", flüsterte er. „Bitte geh nicht. Ich brauche Hilfe... Ich..."

Loi verdammte ihr Gewissen, dass sich ausgerechnet jetzt zu Wort melden musste. Mit Mitleid kam man nicht weit. Aber er hatte es so weit geschafft... Mit einer Verletzung wie dieser musste er eigentlich schon fast tot sein, und dann lag er ausgerechnet auf ihrem Weg. Sie war vermutlich die Einzige, die ihm helfen konnte, schon allein weil sie stark genug war ihn bis zum Dorf zu tragen.

Während ihre Gedanken noch aufholten, hatte Lois Körper sich schon in Bewegung gesetzt. Sie ließ sich neben dem Mann auf die Knie sinken und zog ihr Tuch von ihren Schultern, um damit Druck auf die Wunde auszuüben. Eigentlich war es absurd – der Mann würde ohnehin nicht überleben. Er würde spätestens auf dem Weg zum Dorf verbluten, und hier im Wald hatte Loi nicht die Mittel, die Wunde ordentlich zu versorgen. Und was, wenn er eine Blutspur hinter sich herzog, die mögliche Verfolger gleich ganz bis zum Dorf führte?

Aber Loi war klar, dass es ihr eigentlich nicht um Verfolger ging. Sie hatte sich schon in deutlich größerer Gefahr befunden. Das wirkliche Problem waren die Dorfbewohner. Ein Mädchen, dass sich nachts aus dem Haus schlich, war ein Skandal. Wenn sie dann noch mit einem fremden Mann verkehrte, war es unverzeihlich. Und ein Mädchen, dass in der Lage war, diesen Mann bis zum Dorf zu tragen, war eine Elfe.

Sie sah wieder auf den Mann hinunter, der mittlerweile ohnmächtig geworden war. Die Blutflecken auf ihrem eigenen Kleid waren auffällig dunkel im Vergleich zum umgebenden Stoff. Andererseits – so wie sie aussah, konnte sie niemandem wirklich etwas vormachen. Irgendjemand würde Fragen stellen. Und sie konnte diesen Mann nicht hier liegen lassen, nur um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Das war es, was sie mit Dalia gemacht hatten. Damals hatte sie sich vorgenommen, anderen Wesen zu helfen. Sie hatte ihr Versprechen schon zu oft gebrochen.

Hey, schön dass ihr hergefunden habt! Ich würde mich über jedes Feedback freuen, auch Hinweise auf Rechtschreibfehler, Grammatik und natürlich Plotholes sind willkommen

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Ich hoffe, dass euch die Geschichte gefällt.


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