Den ersten Tag in der Stadt verbrachten sie mit allerlei Besorgungen. Das wenige Geld, das sie dabeihatten, gaben sie für haltbare Verpflegung aus, da Martin darauf bestand, Lois Heilertasche umsonst aufzufüllen. Eine ganze Weile diskutierten sie darüber, was Loi am Ehesten brauchen würde und wie viel sie mitnehmen konnte. Janina stand währenddessen gelangweilt daneben und betrachtete die verschiedenen Flaschen und Phiolen, die säuberlich beschriftet auf Regalen in Martins Wohnraum aufgereiht waren. Ihr Blick strich unsicher über die Schriftzeichen. Noch etwas, dass Loi ihm beigebracht hatte. Vielleicht könnte sie es auch Janina irgendwann zeigen.
Als sie fertig waren, meinte Martin plötzlich: „Warte hier, ich hab noch was für dich", und machte sich mit langsamen Schritten auf den Weg in sein Schlafzimmer. Einige Minuten später kam er mit einem Kleiderbündel unter dem Arm zurück, das er Loi reichte.
„Probier die an".
Sie nahm die Kleider und er wandte sich um, um ihr etwas Privatsphäre zu geben. Schnell verschaffte Loi sich einen Überblick über das, was er ihr gegeben hatte, bevor sie sich umzog. Eine Tunika, ein Wams und eine Hose. Die Kleider waren etwas zu groß, aber es ging.
„Danke, Martin, du kannst dich wieder umdrehen".
Er wandte sich um und musterte sie mit anerkennendem Blick.
„Dacht' ich's mir doch, dass du das immer noch bevorzugst".
Janina sah sie ungläubig an.
„Das kannst du doch nicht tragen!"
„Und warum nicht?"
Das war es also. Loi hatte seit dem Anfang ihrer Reise damit gerechnet, dass es Janina irgendwann zu viel werden würde. Als sie mit offenen Haaren durch den Wald gelaufen war, als es sie nicht gestört hatte, sich in kalten Nächten mit Lune die Decke zu teilen, als sie von Dalia erzählt hatte. Eigentlich war es ihr lieber, dass es jetzt passierte, bei etwas so Unwichtigem.
„Es ist", setzte Janina an. „Es ist nicht richtig! Du ziehst dich an wie, wie... Mein Vater würde es niemals erlauben!"
Loi hielt ihrem Blick stand.
„Diese Kleider könnten uns beiden mal das Leben retten, wenn ich kämpfe, ohne mich in meinem Kleid zu verheddern".
„Aber..."
Janina verstummte, und Loi wandte sich Martin zu, um zu versuchen, ihn zu irgendeiner Bezahlung zu überreden. Diese Diskussion war vorüber, bevor sie angefangen hatte. Janina würde sich damit abfinden müssen. Sie würde noch viel mehr sehen, wenn sie erst einmal bei den Elfen waren. Wenn sie Lune so weit begleiteten.
Janina schwieg, während Loi mit Martin verhandelte, und sagte auch nichts, als sie sich kurz darauf wieder auf den Weg in die Stadt machte, aber trotzdem schloss sie sich ihr an. Loi hatte sich wieder umgezogen, um zwischen den Menschen nicht aufzufallen.
Ihr Weg führte sie durch dieselben verwinkelten Gassen, durch die sie am letzten Nachmittag gekommen waren, leicht hangabwärts in Richtung Stadttor. Janina war noch immer begeistert von der Größe der Stadt und verbrachte die meiste Zeit damit, staunende Blicke um sich zu werfen, auch wenn sie es sich nicht nehmen ließ, Loi ab und zu missbilligend anzusehen. Erst, als sie beinahe auf dem Torplatz angekommen waren, beschloss sie zu fragen:
„Wohin gehen wir eigentlich?"
„Wir suchen das Lager der Torwache. Verhalte dich ruhig, und versuch, mir nicht in die Quere zu kommen".
Loi sah Janina an, dass sie diese Aussage etwas beunruhigte, aber Janina schien beschlossen zu haben, nicht mehr als nötig mit ihr zu sprechen, und sie würde sie nicht drängen.
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Elfenmond
FantasySeit der verlorenen Revolution versteckt sich Loi unter Menschen. Ihre wahre Identität ist verborgen unter Jahrhunderten von Lügen und Geheimnissen. Doch als Loi mitten in der Nacht einem Fremden begegnet, der ihre Hilfe benötigt, muss sie sich ents...