Du bist eine Elfe.
Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Ihre unnatürlich schnellen Bewegungen ließen keinen anderen Schluss mehr zu. Betont langsam legte Loi das Schwert hinter sich ab und stand auf.
„Du musst ruhig bleiben. Bitte..."
Sie lauschte auf den Klang der Mühle. Mischa war gleich nebenan, aber er würde sie nicht hören können. Wenigstens etwas.
„Ich werde fortgehen. Ich bin schon dabei zu packen. Du musst dir keine Sorgen machen..."
Es tat weh, es auszusprechen. Janina war ihre Schwester. Sie sollte sie nicht als Bedrohung sehen, sollte keine Angst vor ihr haben. Aber jetzt würde es nicht mehr anders gehen.
Janina verschränkte die Arme vor der Brust.
„Keine Sorge, ich werde nicht schreien oder so. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich da erst jetzt drauf gekommen bin?"
Sie machte eine kurze Pause, als wartete sie auf eine Antwort. Sie schien überhaupt nicht nervös zu sein, wie sie da im Türrahmen lehnte, eher etwas genervt. Als sie nichts weiter sagte, wagte Loi es, zu sprechen.
„Was wirst du tun?"
„Ich warte darauf, dass du dich erklärst. Ich will die ganze Geschichte wissen. Was du hier tust. Wer du bist. Danach entscheide ich, was ich tun werde".
Loi schüttelte den Kopf.
„Du musst nichts entscheiden. Du kannst es ihnen sagen, wenn du willst, aber es spielt keine Rolle mehr. Gib mir noch heute Nacht, bitte. Dann bin ich weg und du kannst tun, was immer du willst".
„Und dich einfach gehen lassen, ohne jede Erklärung? Wir haben zwei Jahre lang zusammengelebt, Loi! Wir haben uns ein Zimmer geteilt! Du kannst jetzt nicht einfach verschwinden, ohne dich auch nur zu verabschieden!"
„Es tut mir leid".
Loi wandte sich um und begann, die Dinge, die auf ihrem Bett herumlagen, in den Rucksack zu stopfen. Es fehlte noch einiges, was sie gerne mitgenommen hätte, aber ihre Zeit war gerade abgelaufen.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr und wandte sich um, um zu sehen, wie Janina mit dem Schwert in der Hand zurücksprang. Sie hatte es gezogen, aber es war offensichtlich, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte und auch nicht die Absicht hatte, es zu benutzen. Loi streckte die Hand aus.
„Gib mir das".
„Nein. Erst will ich eine Erklärung".
Sie beide wussten, dass Janina nicht die geringste Chance gegen Loi hatte. Loi schulterte den Rucksack, dann war sie mit einem Satz bei Janina und wand ihr den Gürtel und das Schwert aus den Händen. Diesmal machte Janina einen erschrockenen Schritt zurück, aber sie schien noch immer nicht ängstlich.
„Glaub mir, ich wollte nicht, dass es so endet. Ich wollte... Vielleicht hätte ich es dir irgendwann erzählt".
Damit schob Loi sich an Janina vorbei und lief aus dem Haus, vorsichtig darauf bedacht, von der Mühle aus nicht sichtbar zu sein.
Der Mond warf ein fahles Licht auf das provisorische Nachtlager, das Loi aufgeschlagen hatte. Sie hatte abgewartet, bis es dunkel wurde, bevor sie zurückgekehrt war um Lune zu holen, der jetzt in ihre Decke gewickelt neben dem Feuer lag und schlief. Sie selbst schlief nicht. Es gefiel ihr nicht, so nah am Dorf zu sein, aber Lune konnte noch nicht wirklich laufen und durfte sich nicht zu sehr anstrengen. Momentan war er verletzlicher als ein Mensch.
Loi lauschte auf die Geräusche der Nacht. Der Wind raschelte in den Blättern der Bäume und ließ sie schaudern. Da war das Getrappel kleiner Pfoten auf altem Laub. Ein Käuzchen schrie. Loi stand auf und begann, im Kreis zu laufen, was ihr Unbehagen jedoch nur steigerte, weshalb sie es bald wieder sein ließ. Stattdessen öffnete sie ihren Rucksack und begann, ihre Ausrüstung zu überprüfen, als wüsste sie nicht ganz genau, was sie dabeihatte. Sie ordnete sie um, packte ihre Kleider ganz nach unten, die Heilertasche, die sie am Morgen brauchen würde, nach oben. Ihr Messer, dass sie eigentlich immer am Gürtel trug, kam auch in die Tasche, dafür schnallte sie sich den breiten Ledergürtel mit dem Schwert um, der die letzten zwei Jahre unter ihrem Bett versteckt gelegen hatte. Hinten waren zwei Halterungen angebracht, in die sie ihre Dolche schob. Dann saß sie wieder da und suchte nach einer weiteren Möglichkeit, sich abzulenken.
Ein Stoß gegen ihre Schulter ließ Loi aufschrecken. Lune kniete vor ihr, eine Hand gegen seine Brust gepresst, während er ihr mit der anderen bedeutete still zu sein.
„Da ist jemand im Wald".
Loi richtete sich langsam auf und rieb sich die Augen, während sie angestrengt lauschte. Lune hatte Recht, da war jemand, wenn auch noch ein Stück weit entfernt. Ein Mensch. Kein Elf oder Kobold würde sich so unbedacht durch den Wald bewegen. Keine Gefahr.
„Lass uns aufbrechen. Ich würde mich besser fühlen, wenn wir ein paar Kilometer zwischen uns und das Dorf legen könnten".
Loi nahm ihren Rucksack und stand auf, bevor sie Lune auf die Füße half.
„Melde dich, wenn es zu viel wird".
Er hatte die Lippen zusammengekniffen, nickte aber zustimmend. Loi lauschte noch einmal, aber jetzt war nichts mehr zu hören. Mit einem letzten Blick in Richtung Dorf marschierte sie los, in Richtung Westen. Zurück zu den Elfen.
Der Morgen zog sich dahin. Sie kamen langsamer voran, als Loi lieb gewesen wäre. Immer wieder mussten sie anhalten, um sich auszuruhen.
Gegen Mittag brach Lune zusammen. Er ließ sich an einem Baum hinuntersinken, blieb zwischen zwei hohen Wurzeln sitzen und weigerte sich, wieder aufzustehen. Loi setzte ihren Rucksack ab und entfachte ein Feuer.
„Lass mich deine Wunde sehen".
Er wehrte sich nicht, als sie sein Hemd anhob und den Verband löste. Die Wunde war rot und sah entzündet aus, aber immerhin war die Naht nicht aufgerissen. Loi wühlte in ihrem Rucksack nach der Medizintasche und trug eine Salbe auf, dann legte sie einen neuen Verband an.
„Wie schlimm ist es?"
„So schlimm wie man es erwarten kann, nachdem du von einem Schwert getroffen wurdest und stundenlang im Wald herumgelaufen bist. Es sieht nicht gut aus, aber du wirst es überleben".
„Wie lange, bis ich kämpfen kann?"
„Zwei Wochen? Drei? Wenn ich hier eine richtige Ausstattung hätte, würde ich sagen weniger, aber wie du vielleicht gemerkt hast, sind wir im Wald".
Lune nickte zustimmend.
„Damit kann ich umgehen."
Er schien noch etwas hinzusetzten zu wollen, aber bevor er dazu kam, ertönte ein vernehmliches Knacken aus dem Wald. Sie beide fuhren herum. Stille folgte.
„Ich gehe nachsehen". Loi zog einen ihrer Dolche und drückte ihn Lune in die Hand. „Ruf, wenn du jemanden siehst". Damit rannte sie los.
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Elfenmond
FantasySeit der verlorenen Revolution versteckt sich Loi unter Menschen. Ihre wahre Identität ist verborgen unter Jahrhunderten von Lügen und Geheimnissen. Doch als Loi mitten in der Nacht einem Fremden begegnet, der ihre Hilfe benötigt, muss sie sich ents...