Geheimnisse

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Loi saß an dem schmalen Bett in Lindas Gästezimmer, die linke Hand auf den Verband des Fremden gepresst, und sang. Es war kein kompliziertes Lied, nur eine kurze Melodie, die sich immer wieder wiederholte. Der Text war ein einfacher Segen, ein Wunsch der Heilung. Loi legte all ihre Kraft in das Lied, all ihre Hoffnung darauf, dass dieser Mann heilen würde. Sie wusste nicht, ob es wirkte. Selbst wenn er aufwachte, würde sie nie wissen, ob es an dem Zauber gelegen hatte. Sie konnte nur ihre Augen schließen und hoffen.

Fast drei Tage waren vergangen, seit sie den Fremden ins Dorf gebracht hatten, und langsam begann Loi sich zu fragen, ob er jemals aufwachen würde. Jendrik kam zweimal am Tag vorbei, scheuchte alle aus dem Zimmer und führte merkwürdige Rituale durch, die im besten Falle nutzlos und im schlimmsten schädlich waren. Linda schaute regelmäßig nach dem Patienten, konnte aber nicht viel tun, solange Loi die Verbandswechsel übernahm. Sie war erst vor einer Stunde hier gewesen, und so hatte Loi jetzt etwas Zeit, sich auf ihre eigene Art um den Fremden zu kümmern. Aber Magie war kein genaues Handwerk. Sie stützte sich auf die Wünsche und Hoffnungen der Begabten, und während Worte sie zwar manchmal in die richtige Richtung lenken konnten – vor allem, weil sie verhinderten, dass man sich ablenken ließ – war sie noch immer schwer zu beherrschen. Und Loi war keine besonders starke Magierin. Ihre Fähigkeiten beschränkten sich fast ausschließlich auf Heilung, und selbst da war sie sich oft nicht sicher, ob sie wirklich etwas bewirkt hatte. Es war fast absurd. Ihr Bruder hatte als Kind bunte Lichtblitze an den Himmel zaubern können, einfach nur, weil er sie schön fand, und Loi brachte es nicht einmal fertig, diesen Fremden zu wecken. Vielleicht lag es an den Zweifeln, die sie immer noch hatte und die sie daran hinderten, vollen Herzens auf seine Genesung zu hoffen. Aber wahrscheinlicher war, dass sie einfach nicht stark genug war. Sie war nie stark genug gewesen.

Der Nachmittag ging in den Abend über. Lois Stimme wurde müde und sie summte nur noch vor sich hin. Linda kam vorbei und stellte fest, dass der Mann Fieber hatte. Sie ließ es sich kaum anmerken, aber Loi wusste, dass sie nicht glaubte, dass er genesen würde. Loi hätte es auch nicht geglaubt, wäre er ein Mensch gewesen. Linda ging wieder, um sich um das Essen zu kümmern. Draußen wurde es dunkel. Loi überlegte, eine Kerze anzuzünden, ließ es aber bleiben. Sie sah auch so genug.

Es war mitten in der Nacht, als der Elf sich zu regen begann. Er murmelte einige unzusammenhängende Worte und rollte unruhig hin und her, dann rief er etwas und riss die Augen auf.

„Nima!" Er versuchte sich aufzusetzen, riss dabei aber an seiner Wunde und sank mit einem schmerzerfüllten Ausdruck im Gesicht auf die Matratze zurück.

„Nima, bist du da?"

„Schhhh, du verletzt dich noch. Bleib liegen. Beruhige dich, ich werde dir nichts tun".

Der Blick des Fremden fuhr wild umher, bis er Lois Gesicht fand und sich auf sie fokussierte.

„Du musst durstig sein. Hier, ich habe Tee für dich".

Loi hob den Becher kalten Tees an, von dem sie ihm immer wieder etwas eingeflößt hatte, und schob einen Arm unter seinen Rücken, um ihn zu stützen während er trank. Der Elf trank nicht. Sein Blick war immer noch auf Lois Gesicht gerichtet, und er blinzelte ein paar Mal, bevor er wieder zu sprechen begann.

„Ich kenne dich".

„Bestimmt nicht. Ich habe dich nie gesehen". Es war die Wahrheit, aber Loi wusste, dass es nichts bringen würde. Wenn er vor der Revolution mehr als ein paar Jahre alt gewesen war, dann kannte er ihr Gesicht, sei es von einer der Reden, die sie gehalten hatte, oder von einer der Zeichnungen, mit denen sie nach ihr gesucht hatten. Vielleicht hatte er auch schon Jahre früher ihr Porträt gesehen.

„Trink einfach, dass du wieder auf die Beine kommst, in Ordnung?"

Er wandte den Blick nicht ab, aber er trank und lehnte sich dann langsam wieder im Bett zurück.

ElfenmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt