Der Rückweg zum Dorf dauerte deutlich länger als der Hinweg. Die zusätzliche Last war kein Problem, aber Loi musste aufpassen, den Fremden nicht zu sehr zu belasten. Sie hatte ihr Tuch um seinen Oberkörper gebunden und es festgezogen, so stark sie sich traute, um die Blutung zu verlangsamen, aber es war im besten Falle eine Notlösung. Sie konnte nicht zu schnell laufen und keine zu großen Sprünge machen, und mehr als einmal musste sie stehen bleiben, um sich einen Weg um ein Hindernis herum zu suchen, über das sie normalerweise einfach hinweggesetzt hätte. Immerhin gab ihr das die Gelegenheit, über ihr weiteres Vorgehen nachzudenken.
Es war etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang, als Loi aus dem Wald trat. Sie war in der Nähe der Mühle, ein Stück flussabwärts vom Dorf, wo sie weniger neugierige Blicke finden konnten. Außerdem konnte sie hier immerhin behaupten, dass sie den Fremden zufällig aus dem Fenster gesehen habe.
Vorsichtig legte sie ihn ab und überprüfte seinen Puls. Er war schwach, aber er lebte noch immer. Es überraschte Loi mehr, als sie zugeben mochte. Sie hatte fest damit gerechnet, einen Toten im Wald verscharren zu müssen, aber noch schien es nicht so weit zu sein. Einen Moment lang betrachtete sie ihn. Jetzt, im schwachen Lichte der Dämmerung, meinte sie etwas seltsam Vertrautes in seinen Zügen zu sehen, auch wenn sie sich sicher war, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Loi schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, und lief zum Haus.
„Mischa! Mischa! Da liegt ein Mann vor unserem Haus. Er ist verletzt!"
Aus der Schlafkammer im Obergeschoss erklang ein dumpfer Schlag, dann ein Fluch, dann polterten laute Schritte die Stiege hinunter und der Müller betrat die Küche. Er war nur mit einem Unterhemd bekleidet und rieb sich mit beiden Händen über die Augen. Hinter ihm kam Janina um die Ecke und blieb erschrocken stehen, als sie Loi sah.
„Was ist passiert?"
Loi wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als auch Mischa endlich die Hände sinken ließ und sie ansah. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Oh bei den Göttern, Loi, was ist denn mit dir passiert! Bist du verletzt?"
Mit einem Schritt war er bei ihr und griff nach ihren Schultern, sein Blick suchte sie nach Verletzungen ab. Loi entwand sich seinem Griff.
„Da ist ein Mann, draußen vor dem Haus. Er ist verletzt. Ich habe versucht ihm zu helfen".
Mischa starrte sie noch immer an, nicht überzeugt, dass es ihr gut ging, aber Loi ließ sich davon nicht beirren.
„Komm, schnell!"
Sie führte die anderen beiden nach draußen in den Hof, wo sie den Fremden abgelegt hatte, und ließ sich neben ihm nieder, um noch einmal nach seinem Puls zu fühlen.
„Ich habe ein Geräusch gehört und habe rausgeschaut, und da lag er, und dann bin ich hergerannt und habe versucht ihm zu helfen, aber ich glaube, er stirbt!" Loi schaute flehend zu Mischa auf. „Wir müssen ihm doch helfen!"
Mischa fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Er schien vor allem überfordert mit der Situation.
„Wir brauchen Jendrik. Und Linda. Lauf ins Dorf und geh sie holen. Und bring auch ihre Jungs und eine Trage mit, dass wir ihn zu Lindas Haus schaffen können".
Janina, die die ganze Situation bisher stumm beobachtet hatte, mischte sich jetzt ein. „Lass mich laufen, dann kann Loi hierbleiben und sich saubere Kleider anziehen".
Mischa schüttelte nur den Kopf. „Du gehst ins Haus zurück, es ist mitten in der Nacht. Du gehst jetzt ganz sicher nirgendwo hin. Und Loi, binde dein Haar zusammen und leg dir ein neues Tuch um, so kannst du dich ja nicht sehen lassen. Dann lauf!"
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Elfenmond
FantasySeit der verlorenen Revolution versteckt sich Loi unter Menschen. Ihre wahre Identität ist verborgen unter Jahrhunderten von Lügen und Geheimnissen. Doch als Loi mitten in der Nacht einem Fremden begegnet, der ihre Hilfe benötigt, muss sie sich ents...