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Alexandra

Wenn ich du wäre, hätte ich mich nicht bei meiner Schwester verkrochen, um mich vor Daddy zu verstecken!
Bring dich endlich um!
Was hält dich noch am Leben? Dich will hier doch sowieso niemand!
Denkst du du wärst stark, oder was? Lächerlich!
Hat dich Daddy wieder geschlagen?
Du bist so lächerlich!
Bring dich doch einfach um! Dich will hier niemand!
Denkst du wirklich das Daddy irgendwann aufhört? Bist du wirklich so naiv?
Weißt du, dich will niemand, absolut niemand!
Du bist Schuld daran das deine Mutter abgehauen ist!
Du bist schuld!
Du bist schuld!
Du bist SCHULD!

Ich schreie auf und fange leise an vor mich hinzuwimmern. Ein Glück das ich in meinem und nicht in dem Bett von Elizabeth liege. In der Hoffnung das es mir irgendwie helfen könnte, drücke ich mir die Hände auf die Ohren, doch die Stimme wird nicht leiser, im Gegenteil es wirkt, als würde sie lauter werden.

Wie lächerlich!
Hau ab!
Verschwinde endlich!
Was hält dich noch hier?
Du bist eine Last!
Bring dich um!
Bist du wirklich so naiv wie du tust?

Ich zittere am ganzen Körper. Das ist er, mein ganz persönlicher Dämon. Er taucht auf und verschwindet, wann immer es ihm passt. Die Themen, die dabei in meinen Gedanken auftauchen drehen sich nicht um elendige Albträume. Er spricht mit mir, wann immer es ihm passt. Egal ob ich dafür bereit bin oder nicht.
Aber wann ist man schon dafür bereit?
Der Dämon lebt in mir. Er ist immer da, auch wenn ich ihn nicht höre oder gar spüre. Das erste Mal tauchte er kurz nach dem Verschwinden meiner Mum auf. Was dagegen tun konnte ich nicht. Ob ich es will oder nicht, er ist immer da. Unter seiner Aufsicht versage, immer und immer wieder, jeden Tag, jede Stunde, immer. Und ich kann nichts dagegen machen. 

Ich sitze noch immer in meinem Zimmer. Statt auf dem Bett mittlerweile auf der Sitzfensterbank am Fenster mit einem Kissen im Rücken und einer Decke auf den Beinen. Das Fenster steht offen, seufzend lausche ich den Geräuschen der Nacht. Es wirkt beruhigend, wie immer wieder Autos vorbeifahren und Tiere miteinander kommunizieren. Am liebsten würde ich aufstehen und verschwinden. Egal wohin, einfach nur weg von hier. Aber es geht nicht, noch nicht. Dad würde nach mir suchen, er würde mich härter bestrafen, er würde alles tun. Buchstäblich alles.
Ich schließe meine Augen und lehne meinen Kopf an die Wand. Ich kann nicht mehr. Ich bin kaputt, erschöpft. Ich kann einfach nicht mehr.
Brauche ich eine Pause? Ja. Kriege ich eine? Nein. Wieso muss die Welt nur so ungerecht sein? Reicht es nicht schon das meine Mutter Lizzi und mich im Stich gelassen hat? Reicht es nicht das ich vollkommen verloren bin? Ist es nicht schon schlimm genug das Lizzi ohne Mum aufwachsen muss?
Ich könnte Stunden so liegen bleiben. Mit dem Kopf an der Wand und den Beinen ausgestreckt in eine dicke Decke eingewickelt. Aber jeder schöne Moment soll ein Ende haben, nicht wahr?

Mein Handy beginnt zu klingeln und augenblicklich löse ich meinen Blick von der friedlichen Kulisse. Auf dem Display leuchtet der Name Sofie auf. Ich nehme den Anruf an und wenige Sekunden später höre ich ihre Stimme.
„Hey Alex!"   
„Was gibt's Sofie?", bringe ich müde hervor.
„Was würdest du davon halten, wenn wir plötzlich vor deiner Tür auftauchen würden? So rein hypothetisch", fragt sie mich, schiebt den letzten Satz aber schnell noch hinterher. Fraglich ziehe ich eine Augenbraue hoch, auch wenn sie es nicht sehen kann.
„Ich denke, wenn ihr mitten in der Nacht bei mir auftauchen würdet, würde ich die Situation erst am nächsten Morgen realisieren." Lüge. „Ich würde mich wenn ihr vor mir stehen würdet, fragen was ihr hier machen würdet, aber auch gleichzeitig komplett verwirrt sein." Lüge. Ich höre Sofie am anderen Ende der Leitung nervös lachen.
„Ähm ich..., also wir...", fängt sie an zu sprechen. Ich weiß, was sie sagen will.
„Wir stehen vor deinem Haus", beendet sie ihren Satz. In mir fällt etwas zusammen. Ich habe im Moment keine Lust dazu mich mit jemandem zu unterhalten oder mit jemandem zu treffen. Die Streifen auf meiner Wange sind noch immer nicht verblasst. Dennoch stehe ich auf und gehe aus meinem Zimmer hinaus in den Flur, die Treppe hinunter und öffne meinen Freunden die Tür.
Bitte lass es dunkel genug sein.

Das Telefonat habe ich schon vor ein paar Minuten beendet. Als sie in meinem Blickfeld auftauchen, setze ich meine Maske auf. Die Maske, die nicht zeigt, wie es mir eigentlich geht. Die Maske, die nicht zeigt, dass ich von meinem Vater misshandelt werde. Die Maske, die zeigt das alles in Ordnung ist. Augenblicklich werde ich stürmisch von Vicky in eine Umarmung gezogen. „Alexx!", lallt sie neben meinem Gesicht dicht in mein Ohr. Kurz erwidere ich ihre Umarmung, packe sie dann aber bei den Schultern und schiebe sie sanft von mir. „Ich freue mich auch dich zu sehen", bringe ich mit einem falschen Lächeln hervor. „Sag mal, hast du was getrunken Vicky?" Eigentlich ist diese Frage total unnötig, trotzdem stelle ich sie, um mich zu vergewissern das es wirklich so ist. „Neiiin. Wie kommscht du n dadrauf?" Ich öffne meinen Mund, um zu antworten, jedoch kommt mir Sofie zuvor.
„Kann sie vielleicht bei dir bleiben? Ich will nicht das ihre Eltern sich noch mehr Sorgen um sie machen."
Wortlos schüttle ich den Kopf.
„Sicher das sie nicht mit zu dir kann?"
„Ja."
Einige Minuten hängen wir stumm unseren eigenen Gedanken nach, bis Sofie erneut zu sprechen beginnt.
„Denkst du Chris ist noch wach?" Christian ist einer von Vickys Brüdern und nebenbei der Einzige, der in der Nähe wohnt.
„Ich weiß nicht, es ist mitten in der Nacht." Ohne ein weiteres Wort wendet sie sich von mir ab und holt stattdessen Vickys Handy aus ihrer kleinen Handtasche hervor. 

„Sofie,", meine Stimme klingt sanft, obwohl in mir die unterschiedlichsten Gefühle toben, „bist du dir wirklich sicher? Ich weiß nicht ob es so schlau ist ihn anzurufen."
„Was sollen wir sonst tun? Bei mir kann sie unmöglich bleiben. Grandma und Grandpa sind zu besuch." Kurz tippt sie auf Vickys Handy herum dann erklingt ein leises Tuten. Es klingelt genau fünfmal, bevor es verstummt und ich jemanden sprechen höre. Die Worte, die er sagt, verstehe ich nicht was jedoch nicht nötig ist da ich erahnen kann, was er gesagt hat. Ich trete schließlich ganz in die frische Nachtluft hinaus und nehme Vicky in Augenschein. Sie sieht nicht gut aus. Ihre Augen sind mit Tränen unterlaufen und ihr Make-up hat seine besten Zeiten hinter sich. Ich gehe einen weiteren Schritt auf sie zu und hake mich vorsichtig bei ihr ein, um ihr Halt zu geben. Sie quittiert das ganze mit einem leisen Seufzer und lehnt ihren Kopf an meinen, was bei unserem Größenunterschied nur bedingt funktioniert. Ich beobachte Sofie, die sich inzwischen einige Schritte entfernt hat, wie sie ruhig mit Chris spricht. Nachdem sie schließlich aufgelegt hat, kommt sie wieder zu uns.
„Und?", frage ich.
„Er hat gesagt das sie bei ihm bleiben kann." Erleichtert atme ich aus.
„Gut." 

Auch wenn es nichts mit diesem Abend zu tun hat wird mir eines klar: auf jede Aktion folgt eine Reaktion und auf jede Reaktion eine Gegenreaktion.

Survive instead of life - I'm Alex not Alexandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt