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Alexandra

Ich schaue an mir herab. Mein ganzer Körper ist übersät mit blauen Flecken, die kaum besser werden, und aufgerissenen Wunden die nur schwer zu heilen beginnen. An ein paar Stellen sind auch Narben zu erkennen.
Ich schaue in dieselben blauen Augen, die mein Vater hat. Sie erinnern im Gegensatz zu seinen an gefrorenes Eis. Mein Gesicht ist zart, aber doch unantastbar. Seit einem Jahr lasse ich kaum noch Leute an mich heran, halte es nur schwer allein mit männlichen Personen aus. Sie wissen nicht, dass mein Vater mich misshandelt. In ihrer Gegenwart, aber auch in der Gegenwart anderer Leute, versuche ich das gleiche glückliche Mädchen von vor zwei Jahren zu sein, doch das ist schwer. Es fällt mir schwer mich normal zu verhalten. Am liebsten würde ich mich irgendwo verkriechen und nie wieder rauskommen. Doch das geht nicht, leider. Am liebsten würde ich den Kontakt zu allen Menschen, die ich kenne, abbrechen, doch das geht nicht. Mühsam wende ich meinen Blick von meinem Spiegelbild ab und schnappe mir meinen Rucksack.

„Lizzi, bist du fertig? Wir müssen los", frage ich sie als ich sie im Flur stehen sehe.
„Jaaa!"
Ich ziehe mir ein paar Sneaker an und nehme ihre Hand in meine. Im Vergleich zu meiner ist sie winzig. Kaum ist die Tür hinter mir ins Schloss gefallen flitzt Lizzi voraus zu dem pechschwarzen Motorrad in unserer Einfahrt. Ich habe es mir gekauft, als ich 16 geworden bin. Ich hole ihren Helm hervor und ziehe ihn ihr auf. Dabei muss sie grinsen. Es ist süß. Wenn sie lächelt, vergisst man die Welt um sich herum. Ich hebe sie hoch und setze sie auf die hintere Sitzfläche. Danach schwinge ich mich vor sie und sie umfasst meine Hüfte. Ich lasse den Motor kurz aufheulen, dann fahre ich los.

Ich ziehe meinen Haustürschlüssel aus meiner Hosentasche und schließe die Tür auf. So leise wir nur möglich ziehe ich die Tür hinter mir zu, meine Schuhe aus, stelle sie ab und tapse den Flur entlang.
Bitte lass Dad noch nicht zuhause sein.
Als ich am Türrahmen zum Wohnzimmer vorbeikomme, bleibe ich kurz stehen. Vorsichtig stecke ich meinen Kopf in den Raum und schaue mich um. Auf dem Boden liegen Glasscherben, die Couch ist verschoben worden und die Gardinenstangen hängen verwahrlost von der Wand herab.
Ich will gerade dazu ansetzen weiterzugehen, als ich gegen etwas, was auf dem Boden liegt, stoße.
„Mist." Mit einem Mal ertönt ein leises Brummen aus der angrenzenden Küche. Völlig versteinert bleibe ich auf der Stelle stehen. Zuerst sehe ich einen Schatten, der auf den Parkettboden geworfen wird, Stück für Stück wird dieser immer größer. Langsam löse ich meinen Blick vom Boden und schaue in ein kaltes, männliches Gesicht.
„Was machst du hier?", geht er mich an. Ich will zu einer Antwort ansetzten, doch ich bin unfähig auch nur einen Ton rauszukriegen.
„Was machst du hier?!", fragt er mich erneut, diesmal lauter. Er geht einen Schritt auf mich zu, sodass unsere Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt sind.

„Ich..", setze ich zu einer Antwort an. Mit einem Mal nehme ich die riesige Alkoholfahne wahr und stolpere ein paar Schritte zur Seite. Ich spüre die Wand in meinem Rücken, sie drückt sich hart in meinen Rücken. Kein schönes Gefühl. Ich ertrage es, auch wenn es nur tue, damit ich ihm nicht zu nahekomme.
„Du!" Langsam, aber mit bedrohenden Schritten kommt er auf mich zu. Sie hallen auf dem Boden wider. Er hebt seine Arme und drückt sie gegen mein Schlüsselbein, was zur Folge hat das ich noch härter an die Wand gedrückt werde. Verächtlich schaut er auf mich herab. „Du Schlampe! Du hast deine Mutter umgebracht, du hascht sie getötet! Du bischt Schuld, wegen dir ist sie weg!" „Dad...", wimmere ich. Mum ist nicht tot, das weiß er. „Dad...", wimmere ich erneut. „Nichts Dad! Ich bin nicht dein Vater! Du bischt nicht meine Tochter!" Ich schluchze auf. Der Versuch mich aus seinem Griff zu befreien scheitert, trägt zur Folge das er nur noch fester zudrückt. Hilflos stehe ich da und kann mich nicht wehren. Ich senke meinen Blick auf den Boden. Ich schäme mich, schäme mich dafür was passiert und, dass ich mich nicht wehren kann.
Schau ihn bloß nicht an, rät mir mein Herz.
„Alexandra Rose Stevens! Schau mich an, wenn ich mir dir rede!" Ich lassen meinen Blick gesenkt. „Alexandra!", zischt Dad erneut. Ich zucke zusammen, schaue aber dennoch nicht auf. Auf einmal schnellt seine Hand vor und packt mich am Kinn. Gewaltsam drückt er es nach oben. „Schau mich an!", faucht er jetzt. Meine Augen weichen seinem Blick aus. Als ich es schließlich wage ihn anzusehen liegt in seinem Blick purer Hass gemischt mit Wut. Ein vertrauter Druck baut sich hinter meinen Augen auf, wage es aber nicht ihm nachzugeben.
„Dad, bitte, bitte hör auf!", fange ich wieder an zu wimmern. „Dad! Bitte!" „Habe ich gesagt du sollst den Mund aufmachen? Habe isch das? Nein!" Nun fließen die Tränen doch. Mein gesamter Körper zittert unter seinem Griff. Wieder und wieder spielen sich seine Worte in meinem Kopf ab.

Du hast deine Mum umgebracht!
Du bist schuld!
Ich bin nicht dein Vater!
Schau mich an, wenn ich mit dir rede!
Alexandra..
Er zerrt mich am Ellenbogen ins Wohnzimmer, unsanft werde ich gegen etwas geschubst. 
Ich rühre mich nicht, versuche nicht einmal einen Laut von mir zu geben.
Immer wieder hallen seine Worte in mir wider. Ich merke nicht wie meine Beine nachgeben und ich auf den Boden sinke, ich merke nicht, dass mein Vater anfängt auf mich einzuschlagen, mich tritt und immer wieder anschreit. Es fühlt sich an, als wäre ich gar nicht anwesend, in mir ist nur das Gefühl endgültig versagt zu haben. Als Tochter, Schwester.

Wie ist es nur möglich das von einem auf den anderen Moment alles anders sein kann? Wie? 
Wie kann es nur sein das so etwas passieren kann? Wie?
Er ist mein Dad. Ich sollte ihn deswegen hassen.
Kann ich es? Ihn hassen? Nein, er ist immer noch mein Vater.
Hätte er früher damit angefangen könnte ich es dann? Vielleicht.
Bin ich zu gutmütig?
Sehe ich zu oft das gute im Menschen, auch wenn mir die schlimmsten Dinge angetan werden?
Bin ich zu sehr Mensch?
Bin ich nicht nachtragend genug?
Ich spüre, wie meine Haut unter den Schmerzen anfängt zu brennen, spüre wie sich an manchen Stellen Haut löst, spüre wie mir immer und immer wieder wehgetan wird. Vor meinen Augen beginnen schwarze Punkte zu tanzen. Es wirkt, als täten sie es nur für mich.

Survive instead of life - I'm Alex not Alexandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt