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Alexandra

Es müsste ein Wunder passieren, damit er aufhört. Es müsste ein Wunder geschehen. Aber daran glauben, tue ich schon lange nicht mehr.
Das Schicksal würde mich auch nicht weiterbringen. Dazu müsste ich daran glauben. Doch das tue ich nicht mehr. Ich glaube an nichts mehr. Es würde nichts bringen, nicht wahr?

Ich schreie auf. Meinem Gegenüber, die Person, die mich seit 16 Jahren kennt, entlockt dies ein teuflisches Lächeln. Es zieht sich über sein ganzes Gesicht, seine Augen lachen mit.
Er schlägt auf mich ein, wieder und wieder. Meine Arme sind rot von den Schlägen, meine Beine können mich nicht mehr halten. Kaum habe ich mich wieder aufgerappelt breche ich fast in mir zusammen. Ich spüre den gesamten Schmerz, der durch meine Knochen schießt und sich in meinem Kopf zu Wort meldet. Mein Kopf rät mir zu verschwinden, funktionieren würde es nicht. Wie auch? Ich bin gefangen. Gefangen im Griff meines eigenen Vaters. Er holt aus, tritt und schlägt mich, zerrt mich immer wieder auf meine zitternden Beine, nur um mir dann seine Faust in den Magen zu rammen und mich wieder auf den Boden sinken zu lassen. Es tut weh, so verdammt weh.
Wie kann man so etwas nur seinem eigenen Kind antun? Wie?
Mit einem Mal erscheint ein kleines Messer hinter seinem Rücken. Augenblicklich zucke ich zusammen.
Er würde doch nicht..?
Langsam, fast schon in Zeitlupe, kommt es auf mich zu. Jegliche Emotionen sind aus meinem Gesicht gewichen.  Einzig und allein mein Herz schlägt unregelmäßig in meinem Brustkorb herum.  Die Frage, ob er es erneut wagen würde mich auf diese Weise zu verletzen schwirrt in meinen Kopf umher. Schützend hebe ich meine Hände vor mein Gesicht. „Bitte, Dad. Bitte! Hör auf mir wehzutun. Ich bin doch deine Tochter. Bitte", flehe ich mit tränenunterlaufenden Augen. Bitte. „Nur weil du sagst das du meine Tochter bischt heißt es noch lange nicht das das tatsächlich stimmt! Ich mache das, was ich will! Das hast du nicht zu entscheiden, du Schlampe!", knurrt er. Ich öffne meinen Mund, um etwas zu erwidern, aber kein Wort verlässt meine Zunge.
Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht bin ich ja wirklich nur eine Schlampe und bilde mir zu viel auf mich ein.

Mit den Worten Die Zeit heilt alle Wunden rief der französische Philosoph Voltaire sein berühmtes Zitat ins Leben. Seit Jahrhunderten wird es von Generation zu Generation weitergegeben.
Aber kann Zeit wirklich alle Wunden heilen? Wenn sie das könnte, dann wären meine Schmerzen schon längst verschwunden, nicht wahr?
Stattdessen sind sie noch immer anwesend, jeden einzelnen Tag erinnern sie mich an das, was beinahe tagtäglich mit mir passiert. Man sollte meinen es dauert nur wenige Tage, bis die Wunde zu heilen beginnt, wenn man mit der Zeit geht.
Aber stimmt das wirklich? Wenn es wahr wäre, wären meine Wunden schon längst verblasst, oder? 
Wenn Zeit tatsächlich alle Wunden heilt, dann werde ich wohl die letzte sein die es erlebt.
Ich meine, sollte die Zeit nicht langsam ihren Effekt zeigen? Sollte sie nicht langsam die Wunden kurieren lassen? Können sie nicht verschwinden, weil er sich noch immer an mir vergreift? Oder weil er noch Einfluss auf mich hat? Sagt es mir, bin doch ich es die Schuld trifft?

Mittlerweile sind kaum mehr als drei Stunden vergangen. Ich liege auf meinem Bett, unfähig auch nur irgendetwas zu tun. Ob es mir helfen würde mich von meinen Gedanken abzulenken? Mit Sicherheit nicht, es ist doch nichts neues, das er mich misshandelt. Zudem würde ich nur vor meinen Gedanken davonrennen. Am Ende würden sie mich wieder einholen.
Stumm schaue ich an die Decke meines Zimmers.
Würde es einfacher werden, wenn ich dem Schmerz entkommen würde?
Würden mir Alkohol, Drogen und Co tatsächlich helfen?
Würden sie es einfacher machen?
Könnte ich ihm so entfliehen? Könnte ich meinen Gedanken so entkommen? Könnte ich es so erträglicher machen?
Das Verlangen es auszuprobieren, formt sich in meinen Adern.
Ein leises Klopfen katapultiert mich zurück ins hier und jetzt. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, in meinem Kopf bilden sich wie von selbst neue Szenarien. Meine Augen sind auf die Türklinke gerichtet die langsam heruntergedrückt wird. Als die Tür weit genug offen steht tritt meine kleine Schwester hervor.
„Lizzi, was machst du denn hier?" Ich stehe ich auf und unterdrücke nur mühsam den Schmerz, der aus jeder Faser meines Körpers quillt.
„Ich wollte zu dir, aber unten warst du nicht. Nur Papa."
Bitte lass sie nichts Schlimmes gesehen oder gar erlebt haben. Bitte. 

„Ist alles okay?" Augenblicklich rückt alles in den Hintergrund, meine Aufmerksamkeit liegt einzig und allein auf dem kleinen Wesen vor mir.
Als Antwort nickt sie lächelnd mit dem Kopf.
Gott sei dank.
Erleichtert seufze ich auf. 
„Duu Alex?"
„Ja?"
„Kann ich heute bei dir schlafen?"
„Natürlich Süße." Ich hocke mich vor sie und schließe sie in meine Arme. Die Schmerzen, die dabei entstehen würde ich jedes Mal wieder auf mich nehmen.
„Wie wäre es, wenn du", ich zwicke sie in die Seite, „deine Sachen holst und ich es uns so richtig gemütlich mache?" Grinsend löst sie sich von mir und klatscht freudig in die Hände, bevor sie aus meinem Zimmer verschwindet. Ihr Haar fliegt dabei umher und als sie sich noch einmal kurz zu mir umdreht, blitzen ihre Augen vor Freude. Lächelnd richte ich mich auf.
Bitte lass sie nichts bemerkt haben..
Wenige Minuten später erscheint das Gesicht meiner Schwester erneut im Türrahmen. In ihren Händen hält sie ihre Decke und das mit rosenbestickte Kissen unserer Mutter. Wie von selbst zieht sich mein Herz zusammen.

„Alex?" Ihre zarte Stimme erhellt den Raum.
„Ja, Süße?"
„Was ist das?"
„Was meinst du?" Ahnungslos schaue ich sie an.
„Das da!", ihre kleinen Finger zeigen geradewegs auf einen Punkt in meinem Gesicht. Ich wende meinen Blick von ihr ab, stattdessen treffen meine Augen auf mein Spiegelbild.   Und das, was ich erblicke, lässt mich augenblicklich erstarren. Mein gesamte linke Gesichtshälfte ist übersät mit roten Streifen und an manchen Stellen klebt getrocknetes Blut.
„Das ist.. nicht..", meine Stimme weicht einem bloßen hauchen. Jenes Lächeln ist mir entwichen, zurückgeblieben ist nur der leere Ausdruck in meinen Augen.
„Elizabeth.., geh spielen. Ich hab noch etwas zu tun..."
„Aber du hast gesagt das ich hier sein darf!"
„Es tut mir leid, Süße. Ich komme zu dir, wenn ich fertig bin."
„Du hast es mir erlaubt!"
„Es tut mir leid."

Kennst du das Gefühl zu Unaufmerksam gewesen zu sein?
Kennst du das Gefühl versagt zu haben?
Sag mir, kennst du es?

Es fühlt sich an, als hätte jemand jegliche Emotionen aus meinem Körper gesaugt. Nichts ist mehr da, nur eine leere die nicht verschwindet. Lizzi vortäuschen zu müssen das ich noch etwas zu tun hätte zerbrach einen Teil meines Herzens. Ihr eine Lüge zu erzählen war das letzte, was ich wollte, aber es ging nicht anders. Jetzt sitze ich mit angezogenen Beinen auf dem Boden und betrachte die Stellen meiner Haut, die nicht mit Stoff bedeckt sind.
Ob ich es hinkriege mich aufzuraffen und zu Lizzi rüberzugehen? Ich denke nicht, dabei hat sie es nicht verdient so von mir behandelt zu werden. Sie sollte mit Liebe, Fürsorglichkeit und gleichem überhäuft werden, doch das Einzige, was ich über mich brachte, war sie wegzuschicken und ihr eine Lüge zu erzählen. Der rationale Teil meines Herzens rät mir zu ihr rüberzugehen und mich zu entschuldigen, immerhin hat sie es nicht böse gemeint. Wäre da nicht der andere Teil, der alles andere als Pragmatische, der mir rät, die Sache einfach ruhen zu lassen und nicht noch einmal anzusprechen. Am Ende ist es die rationale Seite meines Herzens die mich zum Zimmer meiner Schwester trägt.

Survive instead of life - I'm Alex not Alexandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt