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Alexandra

Jeden Tag kann man als einen neuen Versuch sehen sich zu bessern, ändern, neu zu erfinden oder auszuprobieren. Jeden Tag kriegt man eine neue Chance. Kurz gesagt: ein Tag kann alles ändern. Erlebt habe ich das viel zu oft. Positiv sowie Negativ.

Müde drehe ich mich in meinem Bett auf den Bauch. Es ist eindeutig noch zu früh, um aufzustehen. Obwohl die Sonne schon seit mehreren Minuten durch meine Gardinen scheint, wälze ich mich immer wieder umher. Auf einmal höre ich das leise Quietschen meiner Zimmertür und setze mich augenblicklich auf. Meine Augen weiten sich und in meinem Kopf spielen sich erneut die unterschiedlichsten Szenarien ab. Szenarien wie Dad in mein Zimmer kommt und alles kaputt macht, wie er zu mir kommt und beginnt auf mich einzuschlagen. Doch es ist nicht Dad, der in mein Zimmer kommt. Nein, es ist Lizzi. Ihre kleine Hand umfasst die viel zu große Türklinke und sie steht vollkommen verschlafen vor mir. Sie trägt ihre karierte Schlafanzughose und dazu ein viel zu großes T-Shirt von mir. In ihrer Hand hält sie ihren Teddy. Langsam beruhigt sich mein Puls wieder. Es ist nicht Dad, der dort steht, zum Glück. Es ist die kleine süße Lizzi die mich jetzt leicht anlächelt.
„Guten Morgen, Süße", erwidere ich ihren Blick sowie ihr Lächeln. „Morgen Alex", erwidert sie verträumt. Sie schließt die Tür hinter sich und klettert zu mir ins Bett. Ich lege einen Arm um sie. „Können wir heute in den Pool?", fragt sie mich mit großen Augen. Mittlerweile sind ein paar Minuten vergangen in denen wir schweigend den Geräuschen, die durch das gekippte Fenster in mein Zimmer dringen gelauscht haben. Ich spanne mich kaum merklich an. Ich will, nein ich darf nicht schwimmen gehen. Was wird sie sich denken, wenn sie meine unzähligen blauen Flecken, meine Wunden und Narben sieht? Sie ist doch nicht dumm, sie wird mir nicht glauben das ich mich gestoßen habe.  Während in mir ein unerbittlicher Kampf der Gefühle und Gedanken stattfindet lächle ich Lizzi nur weiterhin an. Ich sage ihr das es eine gute Idee ist, zumal das Wetter heute gut werden soll.
Sag mal spinnst du eigentlich?!
Da ist er wieder. Mein eigener Dämon. Taucht dann auf, wenn er es für nötig hält und richtet ein riesiges Chaos an.
Was hast du dir nur dabei gedacht? Du kannst doch nicht schwimmen gehen! Sieh dir doch nur deinen Körper an! Überall Narben, blaue Flecken oder heilende Wunden. Denkst du mit deinem Körper kannst du dir das erlauben? Wie kann man nur so leichtsinnig sein? So ein dummes Kind!

Ich scheuche Lizzi aus meinem Bett, stehe dann ebenfalls auf und gehe an meinen Kleiderschrank. Ich schaue mich kurz darin um, entscheide mich dann aber für eine kurze Jeansshorts und meinen schwarzen Badeanzug.
Keine gute Idee! Das weißt du hoffentlich! Schau dir nur einmal deinen Körper an und deine Figur erst!
Er beschwert sich wieder.
Ich drehe mich wieder zu Lizzi um.
„Wie wäre es, wenn du jetzt rüber in dein Zimmer gehst und dich fertig machst?" Bevor ich meinen Satz beenden kann, ist sie schon aus dem Zimmer gehuscht. Ich schließe die Tür hinter ihr und ziehe mich um. Anschließend gehe ich in das Bad, welches an mein Zimmer anschließt, kämme mir meine Harre und lasse sie locker über meine Schultern fallen. Die Wunden und Flecken an meinen Beinen und Armen bringen eine Unsicherheit in mir hervor die zuvor noch nicht da war. Schlussendlich bedecke ich die meisten mit wasserfesten Pflastern, anstatt sie wie sonst mit Make-up abzudecken. Anschließend gehe ich hinunter in die Küche.
Bitte lass Dad schon zur Arbeit gegangen sein.
Ich stehe am Herd und bin dabei die Pancakes in der Pfanne zu wenden als ich Lizzi die Treppe hinunterkommen höre. Sie kommt in die Küche und trägt ein weißes Kleid aus Baumwolle mit dünnen Trägern, welches am Bauch mit kleinen bunten Blumen verziert ist. Ich kann sehen das sie ihren Badeanzug schon drunter gezogen hat und mich durchflutet das Gefühl von Stolz. Ich bin stolz darauf, dass sie es selber, ohne jegliche Hilfe geschafft hat. Sie dreht sich einmal im Kreis und der Rock weht mit. Lächelnd beobachte ich sie dabei und stelle vorsichtig den Teller mit den Pancakes auf den Tisch.

„Frühstück ist fertig, kleiner Wirbelwind!", teile ich ihr mit. Sie bremst ab und setzt sich zu mir an den Tisch, der in dem Erker direkt neben der großen Küche steht. Es ist lange her das wir zu dritt, Dad, Lizzi und ich, zusammen gegessen haben.  Von hier aus hat man einen schönen Blick auf fast den ganzen Garten.
Sobald wir mit dem Frühstück fertig sind, räumen wir zusammen den Tisch ab. Ich stelle das Geschirr und die Teller in die Spülmaschine, anschließend schicke ich Lizzi Handtücher holen, während ich in den Garten gehe. Es ist angenehm ruhig und nur das Zwitschern der Vögel und das leise Geraschel in den Büschen ist zu hören. Es ist schön, dass es zur Abwechslung mal so ruhig ist. Ich könnte mich daran gewöhnen, obwohl ich weiß, dass ich es lieber nicht tun sollte. Ich gehe zu den Liegen, die neben dem Pool stehen und spanne den großen Sonnenschirm, der hinter ihnen steht, auf. Den Zipper, den ich vorhin noch übergezogen habe, lege ich auf die Lehne von einem der Stühle. Ich gehe zurück in die Küche und bemerke erst jetzt das auf der Kücheninsel ein kleiner Zettel liegt. Ich nehme ihn in die Hand und lese mir die paar Worte, die darauf stehen durch. Mir weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht. Das kann doch nicht sein. Er kann doch unmöglich... oder etwa doch?
Wie kann man nur so dumm sein? Natürlich kann er! Das steht doch da! Schwarz auf weiß!
Er verhöhnt mich wieder.

Ich lese mir die Worte, die auf dem Zettel stehen nochmals durch.  
Ich weiß nicht, was ich darüber empfinden soll.
Hoffnung? Freude? Euphorie? Gar nichts?
Schließlich kommt Lizzi wieder aus dem Keller und erlöst mich somit aus meinem Trance ähnlichen Zustand. Sie hat drei Handtücher dabei, zwei davon drückt sie mir in die Arme. Erleichtert mich mit etwas beschäftigen zu können nehme ich sie und gehe zusammen mit ihr in den Garten zurück. Dort lege ich sie eines auf eine der Liegen und das andere auf den Tisch daneben.
Nach einer Weile des angenehmen Schweigens zwischen uns zieht Lizzi ihr Kleid aus und springt in ihrem cremefarbenen Badeanzug in den Pool. Ein paar Spritzer treffen mich und ich wische sie mir mit den Händen vom Gesicht. Anschließend stehe ich auf, ziehe meine Shorts aus und springe ebenfalls in den Pool.
Ich kann es noch immer nicht glauben. Dad ist auf Geschäftsreise. Ein siegessicheres Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Das sind eindeutig die schönsten Worte, die ich in letzter Zeit gehört habe.
Der gestrige Tag war der beste seit langem. Wir waren bis abends draußen. Als wir schließlich doch reingegangen sind, haben wir uns eine Familienpizza bestellt und den restlichen Abend auf der Couch verbracht. Ich habe Lizzi einen Film raussuchen lassen, und so kam es das wir uns erneut einen ihrer Lieblinge angeschaut haben.

Jetzt sitze ich mit angezogenen Beinen auf der Hollywoodschaukel in unserem Garten und lese das Buch, welches ich vor Monaten angefangen, aber bis jetzt noch nicht beendet habe. Das Buch handelt um eine junge Frau, die gerade aus einem anderen Land nach Frankreich gezogen ist. Dort trifft sie immer wieder auf den gut-aussehenden Alec. Zufälligerweise gehen beide auf dieselbe Uni und besuchen ähnliche Kurse. Als die Frau schließlich in ihr Wohnheim zieht wird ihr schnell klar, dass viele Sachen hier ganz anders laufen als in ihrer Heimat.  
Zum ersten Mal seit einem Jahr fühle ich mich wieder frei. Es fühlt sich an, als hätte jemand den festen Griff um meinen Hals gelockert. Ich fühle mich befreit, so befreit wie noch nie. Es ist schon verrückt, wie ein einziges Jahr das Leben eines Menschen um 180 Grad drehen kann. Hätte mir jemand vor zwei Jahren gesagt das sich mit meinem fünfzehnten Lebensjahr alles ändern würde, hätte ich der Person nicht geglaubt.
Doch jetzt?

Wenn mir jetzt jemand sagen würde das es irgendwann aufhören würde, würde ich der Person nicht glauben. Ich spüre, wie in mir die verschiedensten Gefühle toben. Hoffnung, Euphorie, misstrauen. Aber trotzdem fühle ich mich seltsam befreit.
Darf ich das überhaupt? Mich befreit und erleichtert fühlen? Misstrauen das er wirklich unterwegs ist?
Darf ich das? Darf ich diese Gefühle zulassen? Darf ich diese Gefühle empfinden? Darf ich das?
Es kommt mir surreal vor das Dad unterwegs ist. Und trotzdem freue ich mich darüber. Wie kann das sein? Wie kann ich mich darüber freuen das er weg ist? Wie? Er ist mein Vater, sollte ich ihn nicht vermissen? Nur weil er mich misshandelt, muss es ja nicht direkt heißen das er ein schlechter Mensch ist, oder? Oder bin ich wieder zu gutmütig?
Ich schlage mein Buch zu.

Survive instead of life - I'm Alex not Alexandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt