10.

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Alexandra

Die lauwarme Nachtluft legt sich wie eine zweite Haut um meinen Körper. Meine Haare werden vom Wind leicht hin- und hergetragen. Das stumme Schluchzen, was meinen Mund ab und zu verlassen hat, ist verstummt. Aus meinen Augen strömen immer noch Tränen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch durchquere ich den kleinen Vorgarten. Durch meinen Tränenschleier hindurch nehme ich kaum etwas wahr.
Meine Arme schließen sich fester um mich und meine Beine tragen mich durch die dunklen Straßen von Santa Monica, der Stadt, die ich, seit ich klein bin kenne und liebe. Meine Augen sind auf den Boden geheftet und langsam, ganz langsam beginne ich mich von der Situation von gerade eben zu erholen. Mein Atem geht wieder einigermaßen normal, meine Hände zittern und zucken nicht mehr, meine Tränen versiegen und selbst mein Herz beruhigt sich.
Meine Schritte verlangsamen sich, vorsichtig hebe ich meinen Blick.
Vor mir erstreckt sich der Strand von Santa Monica.

Das sanfte Rauschen der Wellen dringt an meine Ohren und mit einem Mal fühlt es sich so an, als würde eine riesige Last von mir fallen. Meine Schultern sacken nach unten und von meinen Muskeln weicht jegliche Anspannung. Ich bücke mich, streife mir meine Sneaker und Socken von den Füßen und tauche sie in den noch immer warmen Sand ein, meine Schuhe nehme ich in die Hand. Mit leichten Schritten bewege ich mich auf die kleinen Wellen, die sanft den Sand berühren, zu. Der Rock meines Kleides schwingt mit jedem Schritt gleichmäßig mit und in mir keimt das Gefühl auf endlich mal wieder aufatmen zu können. Mit ein bisschen Abstand zum Wasser lasse ich mich in den Sand sinken, meine Schuhe stelle ich neben mir ab. Mein Kopf legt sich wie von selbst in den Nacken, friedlich beobachte ich den wolkenlosen Nachthimmel.
Nach einer Weile reiße ich meine Augen von den Sternen los und richte sie stattdessen auf das dunkle Meer, das sich vor mir erstreckt. Es hat etwas Beruhigendes an sich wie die Wellen gebrochen werden und in ständigem Kontakt zum Sand stehen.
Die Sonne ist schon lange untergegangen, trotzdem ist es noch immer angenehm warm.
„Tu m'enchantes à chaque fois!", flüstere ich leise. (Du verzauberst mich jedes Mal aufs Neue)

Nach einer Weile stehe auf. Der Sand knirscht unter meinen Füßen, der Wind spielt mit meinen Haaren. Alles scheint so harmlos, doch das ist es nicht.
Warum kann nicht alles wie früher sein?
Wir könnten wieder eine Familie sein.
Ich könnte Lizzi, ohne Angst darum was passieren könnte, mit Dad alleine lassen. Sie würde mich nicht andauernd fragen, warum ich sie nicht alleine lasse. Ich wünschte ich könnte sie die Liebe spüren lassen die Mum ihr immer geschenkt hat. Doch das kann ich nicht.
Ich kann sie nicht so lieben wie Mum es konnte, das geht nicht. Ich liebe Elizabeth, ohne Zweifel, aber ich kann nicht so tun, als existiere Dad nicht. Ich kann nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, ich kann ihr nicht ohne einen Funken Angst gegenübertreten. Angst davor, was ihr passieren könnte, wenn ich nicht da wäre.

Ich lasse meinen Blick über die nahegelegenen Häuser an der Promenade wandern. Die Lichter im inneren sind allesamt ausgeschaltet, nur hier und da kann ich ein paar schwache Lichtstrahlen erkennen. Ich laufe immer weiter in die Nähe der Häuser. Kurz bevor ich den Stand verlasse, setze ich mich auf eine Bank und streife mir meine Socken und Schuhe über. Dann stehe ich wieder auf. Mit schnellen Schritten hüpfe ich über den Sand, um möglichst wenig davon in meine Schuhe zu bekommen.
Meine Beine tragen mich zurück ins Nachtleben von Santa Monica. Ich habe nicht damit gerechnet das mich meine Beine nochmal zu der Party tragen würden, aber so ist es. 

Seit geschlagenen 10 Minuten stehe ich jetzt schon vor dem Gartentor das erst in den Vorgarten und anschließend in das Haus führt. Ich bin hin und her gerissen. Er, mein Dämon, rät mir das Tor einfach zu öffnen und reinzugehen, doch da ist auch noch diese eine kleine Stimme, ganz hinten in meinem Kopf, die mir dazu rät mich umzudrehen und zu verschwinden.
Was ich letztendlich tun möchte? Ich weiß es nicht. Gar nichts? Alles? Beides? Frag mich nicht. Mein Urteilsvermögen ist schon lange nicht mehr so wie es einst war.
Vielleicht bin ich dazu verdammt mich so zu verändern, dass ich nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin.
„Alekschandra? Bischt du dassss?", ertönt eine mir allzu vertraute Stimme. Ich hebe den Kopf, setze meine Maske wieder auf. Meine Miene ist hart, undurchdringlich.

Ich lasse mir nichts anmerken. Meine Maske ist makellos, perfekt. Kein einziger Kratzer ziert sie, kein Riss, kein Loch. Nichts. Alles ist dort, wo es hingehört. Meine eisblauen Augen verraten nicht was in mir vorgeht, meine Lippen sind zu einem geraden Strich gezogen und doch liegt ein Hauch von einem Lächeln auf ihnen.
Wie armselig willst du eigentlich noch sein? Hm?
Er verspottet mich, schon wieder. Oder immer noch? Ich kann es nicht mehr unterscheiden.
„Alekschhh..." Gefährlich wankend kommt Vicky auf mich zu. In der einen Hand hält sie einen Becher, mit der anderen fährt sie sich durchs Haar. Auf irgendeine Art und Weise ist es ein vertrauter Anblick.
„Alekssss! Wo warscht du? Sofieee un isch ham disch überall gesucht!"
„Ich war.. unterwegs." Nur stockend kommen mir diese Worte über die Lippen.

Vorsichtig öffne ich schließlich das Tor und trete in den Vorgarten. Mein Blick ist auf sie geheftet, ich lasse sie nicht aus den Augen. Langsam gehe ich auf sie zu. Meine Schritte knirschen auf den kleinen Kieselsteinen die einen Weg bis zum Haus formen. Mein Herz beginnt in einem ungleichmäßigen Takt gegen meine Brust zu schlagen. Ich bin nervös. Automatisch krallen sich meine Finger in die Innenseite meines rechten Handgelenks. Ich spüre das Zwicken was von dort aus ausgeht, spüre wie sich mein Zeige- und Mittelfinger immer weiter in meine Haut bohren. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich bin nervös. Aber wieso? Ich kenne sie. Sie, ist meine Freundin, sie kenne ich seit Jahren, sie habe ich in den letzten Monaten unzählige Male mehr als betrunken gesehen. Und trotzdem ist dieses Mal anders. Es fühlt sich anders an, es ist anders. Ich benehme mich anders, mein Körper benimmt sich anders. Und ich bin dran schuld. Ich bin schuld daran, dass ich mich von Dad habe einschüchtern lassen, ich bin schuld daran, dass sie mich an Dad erinnert, ich bin schuld, dass mein Kopf mir einen Streich spielt, ich bin schuld daran, dass Alkohol mich panisch werden lässt.
Und dann ist es plötzlich ruhig.

Ich stehe vor ihr.
Ich stehe vor Vicky.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um dann weiter in meiner Brust herumzuspringen. Ich bin panisch, nervös. Und das nicht im guten Sinne. Meine beiden Finger sind noch immer in mein Handgelenk gekrallt. Langsam ziehe ich sie ein Stück zurück. Nun beginnen mein Zeigefinger und Daumen an der weichen Haut zu ziehen. Es ist nicht fest, ich übe nur ein bisschen Druck aus. Das Blut in meinen Ohren hört auf zu rauschen. Stattdessen bildet sich eine leichte Gänsehaut auf meinen Armen. Es ist nicht kalt, es wird nur kühler. Ich bin nervös und panisch zugleich.
„Lass uns zurück ins Haus gehen." Mein Mund ist mit einem Mal staubtrocken. Ich muss mich räuspern, um überhaupt ein Wort rauszukriegen. Vorsichtig mache ich noch einen Schritt nach vorne. Mein Herz rast. Meine Finger lassen von meinem Handgelenk ab. Jetzt hängen sie schlaff an meinem Körper herab.
In meinem Kopf wirbeln unzählige Gedanken herum, es sind zu viele. Und dann ist da noch der Dämon. Mein Dämon. Eine Kreatur die sich in meinen Kopf, meinen Körper geschlichen und alles durcheinandergebracht hat. Seine Stimme verhöhnt mich, lacht mich aus, stellt Sachen mit mir an die ich nicht verhindern kann.

Die Luft ist stickig. Die Wände erdrücken mich. Ich habe keine Platzangst, nein, Räume mit zu vielen Menschen waren mir nur nie richtig geheuer. Sie lösen in mir ein Gefühl von Nervosität, Bedrängnis und Panik aus. Nervosität vor falschen Worten, Bedrängnis vor Gesprächen und Panik vor dem ganzen Rest. Mein Blick schweift durch den Raum. Hier und da bleibt er hängen, wandert dann aber schnell wieder weiter. Ich scanne den Raum ab. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht tue ich es aus einer Intuition heraus, vielleicht tue ich es, weil ich es tun muss. Vielleicht ist es ein Reflex. Vielleicht ist es einfach so.
Vicky steht neben mir. Ein paar Haarsträhnen haben sich aus ihrer Frisur gelöst und fallen ihr in leichten Wellen über die Schultern. An ihrem Kleid kann ich ein paar Falten erkennen. Sie lassen sie natürlicher wirken. Ihre Füße stecken in schwarzen Schuhen mit einem niedrigen Absatz, trotzdem wirkt es so, als hätte sie die Kontrolle über alles und jeden. Mein Herzschlag beginnt sich wieder zu beruhigen. Er wird langsamer, ruhiger, entspannter. Auf einmal legt sich ein warmer Arm um meine Schultern. Automatisch zucke ich zusammen und unterdrücke nur gerade so einen Aufschrei. Mein Herz beginnt erneut wie wild zu schlagen. Es stolpert in meiner Brust herum, fast so, als würde es seinen Platz suchen, aber nicht finden.

„Duhuu Alex?" Ich schrecke erneut zusammen. Ihre Worte dringen wie durch Watte zu mir rüber, in meinem Kopf bricht lautes Geschrei aus. Die Warnlampen leuchten wie verrückt. Trotzdem klingt meine Stimme ruhig und sanft, als ich ihr antworte. „Ja Vicky?" „Isch liebe disch und Sofiee soo dolle." „Wir dich auch Vic. Wir dich auch." Mein Herz klopft immer noch wie verrückt in meiner Brust herum.

Survive instead of life - I'm Alex not Alexandra Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt