Kapitel 1: Rufst du wieder an?

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Auf den ersten Schrei folgt der erste Atemzug. Neues Leben entsteht in einer Welt voller hässlicher und wunderschöner Dinge, welche die Lebewesen formen.
Aus den liebevollen Händen einer Geburtshilfe in die zärtlichen Arme einer Mutter.

Hineingeboren in eine Welt, als das zweite Kind einer verlassenen, verzweifelten Mutter.
Weitere Geschwister folgen und ich werde älter. Aus leuchtenden Kinderaugen werden schnell glanzlose, matte Organe.

"Nein", sagt die Frau, die sich meine Mutter nennt und schlägt mir, ihren Kind, auf die Finger. Kein Eis, nichts Süßes, kaum Spielsachen.
Ein Vater - Fremde, immer wechselnde Männer, die unsere Mutter zumindest so nennt, doch nicht einmal die Jüngsten glauben ihr das noch, obwohl sich alle einen Vater wünschen - bei mir ist es nicht anders.

Ich werde groß auf einer der hässlichen Seiten dieser Welt und muss nun mit den Karten spielen, die mir gegeben wurden. Ich will lernen, ich will eine Bildung, doch Kinderschreien und streitende Geschwister halten mich davon ab und rauben mir den Nerv. "Jin, die Schlampe schlägt mich!" - "Nenn sie nicht so, sie ist deine Schwester!" Kreischen, welches ohrenbetäubenden Hall mit sich zieht ... Wenn ich - ja, ich - meine jüngeren Geschwister in das Bett gebracht habe, darf ich mich nicht mehr im Wohnzimmer aufhalten, außer ich will mit ansehen wie meine Mutter auf der Coach die Beine für einen Mann breit macht, dessen Namen ich mir schon gar nicht mehr einpräge, denn heute heißt er Niklas und in einer Woche Johann. Dabei ist es ihr völlig egal, ob ich zusehe oder die ganz Kleinen. Ich habe einen älteren Bruder, doch dieser ist schon lange zu seiner Freundin gezogen und sieht das hier nicht mehr mit an.
Am liebsten würde ich auch einfach meine wenigen Sachen in eine Tüte packen - denn ein guter Koffer ist meiner Mutter zu teuer - und gehen.
Niemals wieder kommen und irgendwohin wandern, ohne ein letztes Mal zurück zu schauen ...
Doch was soll dann aus den Kleinen werden? Ich kann sie nicht einfach hier alleine lassen, völlig auf sich alleine gestellt. Dem Jugendamt will ich sie auch nicht überlassen, nur damit sie diese in irgendein Jugendheim oder ähnliches stecken.
Wenigstens muss einer da sein, der sich um sie sorgt, wenn sie streiten, krank sind ... oder der ihnen etwas zu Essen macht, denn nicht einmal das tut unsere Mutter. Sie liegt den ganzen Tag nur in dem von Zigarettenrauch verpesteten Wohnzimmer und schaut sich Sendungen über die Probleme anderer Menschen an, tut so, als hätte sie selbst keinerlei, ignoriert, dass ihre Babys weinen und es würde hier niemanden wundern, wenn sie erneut schwanger wäre - nicht zu dämlich zum Verhüten, sondern zu faul! Meine Mutter bringt Kinder auf die Welt, die sie nach zwei Jahren nicht mehr schön zum Spielen findet und lässt sie alleine. Außer meinem Bruder sind alle anderen nur Halbgeschwister mit verschiedenen Vätern, die sie nie kennenlernen durften. Ich kann verstehen, dass man abstürzt, wenn der Mann den man liebt von einem geht, doch das sehe ich als keinen Grund immer und immer mehr Menschen auf die Welt zu bringen, als wäre das hier noch die Zeit, in der man für das Kriegen und Aufziehen von vielen Kindern Auszeichnungen und Medaillien erhält!

Ich habe natürlich kein gutes Verhältnis zu meiner Mutter und ich nenne sie schon lange nicht mehr "Mama." Papa gab es für mich sowieso noch nie! Als Kind wusste ich nicht einmal, dass Familien zwei Elternteile haben. Die Erkenntnis, dass normalerweise ein Mann und eine Frau zusammen die Eltern von Kindern ergeben, holte mich erst im Grundschulalter ein, als die anderen Kinder von beiden abgeholt wurden, während ich nach Hause laufen musste. So neidisch ... Ich war so neidisch! Ich wollte auch einen Vater und von der Schule abgeholt werden, singend und Händchen haltend den Gehweg entlang laufen, doch ich war damals schon immer auf mich alleine gestellt. Mittlerweile ist es mir egal.
Ich habe keinen Bezug mehr zu dieser Person und das einzige was uns verbindet ist die Tatsache, dass ich gezwungen bin hier zu leben.
Die einzige Beziehung, die wir in irgendeiner Art und Weise zueinander haben ... ist auch nur die, dass wir blutsverwandt sind, doch es ist wie bei einem Familientreffen, bei welchen man niemanden kennt.
Meine Mutter ist mir fremd.

Weil Gott, an den ich übrigens nicht glaube, es aber so will gewöhnt man sich an beinahe alles. Man gewöhnt sich daran keine Eltern zu haben und die Vaterrolle der zerrütteten Familie zu übernehmen. Egal, wie es mir geht - ich muss immer einsatzfähig sein. So kommt es oft dazu, dass ich mit hohen Fieber Streit zwischen gewaltbereiten Geschwistern schlichten oder für sie das Nötigste einkaufen muss. Es ist anstrengend, ja! Aber was soll ich machen?

Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt und seit einigen Monaten eine Antwort darauf gefunden.
Drogen nehmen mich mit in eine andere Welt und sorgen dafür, dass es mir gut geht. Mir wird schon nichts bei der teuren Möglichkeit abzuschalten passieren und meinen eigenen Anteil an Essensgeld, den ich dafür ausgebe, bereue ich auch nicht, da sie den schmerzhaften Hunger unterdrücken. Ich fühle mich gut, auch wenn ich vielleicht ein wenig zu leicht bin und mehr auf die Waage bringen sollte, als bloß noch fünfzig Kilogramm mit meinen 1,82 Metern. Als mein großer Bruder noch hier war, hat er mich tatsächlich zu einem Doktor geschleppt.
"Der Junge muss zunehmen", und: "Auch Stress kann ein Auslöser für das Untergewicht sein", hat er gesagt und mir zudem noch ein Angebot für eine Klinik gemacht, in die angehende Magersüchtige sollen.
Dankend habe ich abgelehnt und mit dem weiter gemacht, was ich in letzter Zeit immer tue. Egal, ob Pulver, Spritze, Tablette - ich bin für alles offen. Ich bin, wie gesagt, mit meinen fünfzig Kilogramm glücklich und brauche nicht mehr die siebzig.

In eine andere Welt abzutauchen, in der man jeden kleinsten Hauch so intensiv fühlen kann, kostet eben viel Geld. Natürlich könnte ich mir von den acht Euro pro Kapsel sogar etwas sehr gutes leisten, jedoch ... verzichte ich lieber.

Besorgen kann ich die Tütchen überall. Hat man Lust oder braucht es gerade einfach, zückt man sein gebrauchtes Handy und ruft jemanden an, der dich wie ein Kind in einem Spielzeugladen fühlen lässt.
Auch heute ist es wieder soweit und ich reiße schon fast das Objekt meiner Begierde aus der Hand meines Gegenübers. "Bist ein guter Kunde", klingt seine Stimme beinahe lobend und er dreht sich weg. Der Mann zieht alle Finger ein - bis auf Daumen und den Kleinen. Diese Form hält er sich dann an das Ohr und ich verstehe sein unausgesprochenes "Rufst du wieder an?"
Ich nicke.


Disallowed Love (BoyxBoy. Yaoi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt