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16.03.2024, 13:25 Uhr, Dallas, Texas

Rebecca Lankert lebte in gänzlich anderen Verhältnissen als Selina Kübler. Das stellte Alina bereits fest, als sie auf das Trailerparkgelände am Stadtrand von Dallas zulief - eine in vielerlei Hinsicht heruntergekommene Gegend.

Es war schwer, sich zwischen den leeren Spritzen, unzähligen Zigarettenstummeln, Schnapfsflaschen und benutzten Kondomen nicht unbehaglich zu fühlen. Der Müll zwischen den Behausungen zeugte von den vorherrschenden Lebensinhalten in diesem Viertel: Ein ganzes Leben für den nächsten Schuss. Immerhin die gardinenbehangenen Fenster der einzelnen Trailer strahlten etwas Gemütliches aus. Vermutlich lag das nur daran, dass Alina sie mit Camping assoziierte - nichts desto trotz hatten nicht wenige Bewohner der Stadt eine Heimat hinter diesen bescheidenen Vorhängen gefunden.

Der Trailer mit der Nummer 34 hatte seine ursprüngliche Bestimmung als Seecontainer gegen ein Dasein als menschliche Behausung eingetauscht. Er wirkte gepflegter als die meisten anderen Objekte im Trailerpark. Seine Fassade zierte ein übergroßes Konterfei von Che Guevara. Die weiß gebliebenen Stellen waren zudem mit LSBTQ-Flaggen und Weed-Stickern übersät. Das alles sprach eher für einen alternativen Lebensansatz als für wahre Existenznot.

Alina fand Unterschlupf unter einem aufgestelzten Trailer direkt gegenüber von Rebeccas Container. Hier hatte sie guten Blick ohne ihrerseits aufzufallen. Die Versteckmöglichkeiten im Trailerpark waren um Welten besser als auf offener Straße. Einzig das undefinierte Rascheln aus allen Ecken bereitete Alina Sorgen. Eine vorbeiflitzende Ratte könnte sie jederzeit aufscheuchen und aus ihrer Deckung zwingen. Zudem war die gebückte Haltung unter den niedrigen Stelzen auf Dauer eine Tortur!

Sie saß längst auf ihrer vom Boden durchfeuchteten Hose. Die Kälte schlich sich allmählich in ihre Glieder. Der Container gegenüber von ihr war dunkel. Rebecca schien nicht da zu sein. Ob sie überhaupt noch kommen würde? Womöglich traf sie sich genau in diesem Moment an irgendeinem unbekannten Ort in der Nähe mit Chris – für ihre Belieferung. Die Tatenlosigkeit zehrte an Alinas Nerven. Außer Schnapsleichen, schizophren anmutenden Drogen-Junkies und Ungeziefer lief nichts an ihr vorbei. Sie war bereits kurz davor aufzugeben, als sich ein junges Pärchen händchenhaltend näherte. Zwei Frauen! Alina ahnte sofort, dass die beiden zu der Behausung passten. Zu sehr unterschieden sie sich von den meisten anderen Passanten. Ihre Kleidung wirkte gepflegt. Ein Hauch von Zivilisation an diesem unheimlichen Ort! Zugleich passten die kurzen Haare, die großen Ohrringe und die ausgefallene Kleidung zu dem alternativen Lebensstil, den Alina vermutete. Gebannt richtete sie sich gebückt auf ihre Beine. Die beiden unterhielten sich. Das Gespräch wirkte ruhig und harmonisch. Nicht aufgeregt – keine übertriebene Freude. Es wirkte routiniert. Doch Worte konnte Alina nicht aufschnappen. In der Tat steuerten die beiden den Container an und verschwanden schließlich darin.

So sehnsüchtig Alina auch in Richtung der Fenster starrte – es kehrte erneut Ruhe ein. Die Langeweile zerfraß sie. Einzig die Gewissheit, Rebecca nun vor sich zu wissen ließ sie noch weiter durchhalten. Was wenn die Belieferung hier stattfand? Das durfte sie auf keinen Fall verpassen! Doch es passierte – nichts.

Alina widmete sich schließlich ihrem Handy. Sie reduzierte die Helligkeit des Bildschirms so weit wie möglich um sich nicht durch das Licht unter dem Trailer selbst zu verraten. Inzwischen war die Dämmerung längst eingebrochen und mit jeder weiteren Stunde würde es riskanter werden, noch ihr Handy zu benutzen. Sie suchte im Internet nach Rebecca Lankert – nichts! Offenbar verfolgte die junge Frau auch in dieser Hinsicht einen alternativen Ansatz. Bei Selina Kübler hingegen wurde sie schließlich fündig – ein ausgeschmücktes von Filtern übersätes Profil voller Selfies mit Champagner, Sushi und dem Porsche. Wie passend! Tausende Bilder – doch kaum eine nennenswerte Erkenntnis! Es war nicht Alinas Tag!

Frustriert steckte sie ihr Handy schließlich wieder in die Tasche. In der hereinbrechenden Dunkelheit war der Ort noch viel unheimlicher – und ihr Versteck erst recht. Was auch immer dort raschelte – es schien nachtaktiv zu sein. Alina wagte es kaum noch hin zu sehen und versuchte nicht darüber nachzudenken. Eine knappe Stunde hielt sie es noch aus – dann war ihr Wille endgültig gebrochen und sie kroch aus ihrem Loch hervor. Das Licht im Trailer war inzwischen gedimmt. Rebecca und ihre Freundin hatten es sich offenbar längst gemütlich gemacht. Kaum vorstellbar, dass sich hier heute noch etwas tun würde. Entkräftet und frierend gab Alina schließlich auf. Schnellen Schrittes entfloh sie dem Trailerpark, um noch einen Bus zu erwischen.

Schwarze KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt