KAPITEL 14 | SCHULTER AN SCHULTER

29 12 5
                                    

Tycho konnte es nicht fassen. Da saß der Prinz zusammen mit seinen Mitverschwörern an einem Tisch, so einträchtig, als hätte er keine Ahnung, was er mit seiner Tat angerichtet hatte. 

Über diesen Anblick vergaß Tycho beinahe, was sie soeben von Reaper gehört hatte, und richtete ihre Waffe genau auf Cassians Kopf.

»Tycho ...«, hauchte der Prinz und hob abwehrend die Hände.

Er sah anders aus, als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen, das bereits einige Monate zurücklag. Der arrogante Pfau, der noch vor nicht allzu langer Zeit von Party zu Party stolziert war, hatte sich in einen erwachsenen Mann verwandelt, der einen erstaunlich hemdsärmeligen und zielstrebigen Eindruck machte. Aber vielleicht lag das auch nur an der Uniform. 

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn das mit seinem Herzen nicht passiert wäre, überlegte Tycho. Doch wie man es auch drehte und wendete, das allein war kein Grund, den Neoczaren zu töten. Stellte sich die Frage, wieso der Prinz es getan hatte. 

Nach allem, was Tycho inzwischen wusste, interessierte sie die Antwort auf diese Frage brennend.

Die Mitverschwörer des Prinzen wurden nun ebenfalls auf Tycho und Zhang aufmerksam. Das musste an den Pulswaffen liegen. Damit stand man auf jeder Party im Mittelpunkt.

Tycho ließ ihren Blick über die Gesichter von Cassians Begleitern wandern. 

Neben dem Prinzen saß eine junge Frau mit hellbrauner Haut und krausen Haaren, vermutlich eine Amalythin. Auf der anderen Seite des Tisches hatten sich zwei Männer unterschiedlichen Alters niedergelassen. Der Jüngere war kantig und durchtrainiert, irgendwie ungeschliffen. Der Ältere war ein kräftiger Dunkelhäutiger mit langen Filzlocken, dem es auf seltsame Weise gelang, gleichzeitig straßenschlau und hochgebildet zu wirken. Sein ruhiger Blick wanderte zwischen Tycho und Zhang hin und her und Tycho wurde klar, dass er sie auf dieselbe Weise maß, wie sie ihn. Auf der Suche nach Antworten. Auf der Suche nach einer Schwäche.

»Tycho, warte!«, sagte der Prinz. »Warte!«

»Wer ist das?«, fragte der kantige, junge Mann mit den kurz rasierten Haaren.

»Das sind Tycho und Zhang vom IPSD.«

»Vom Geheimdienst?« Die Amalythin sah aus, als wäre ihr mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen worden.

Tycho fragte sich ernsthaft, was diese jungen Leute erwartet hatten. »Du weißt genau, weshalb wir hier sind, Cassian«, sagte sie. »Oder hast du ernsthaft gedacht, du könntest den Neoczaren ermorden und damit davonkommen?«

»Nein.« Der Prinz schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gedacht.« 

Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ Tycho innehalten. Ihr Blick wanderte von Cassians Gesicht zu seiner Brust. Der Plasma-Zylinder, der in seinem Herzen steckte, war nicht zu sehen, aber natürlich musste er noch da sein. Cassian wirkte, als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er war das Risiko eingegangen, wohlwissend, dass seine Tat seinen Tod bedeutete. 

Dieser Idiot, dachte Tycho, doch aus irgendeinem Grund konnte sie nicht mehr dieselbe Verachtung für ihn empfinden wie noch vor ein paar Minuten. Sie spürte jetzt, dass noch mehr dahintersteckte. Der Prinz hatte den Czaren nicht aus persönlichen Motiven getötet. Oder jedenfalls nicht nur.

»Wie konnten Sie so schnell hier sein?«, fragte der ältere Mann mit den Filzlocken.

»Wir haben uns eben beeilt«, antwortete Tycho und verschwieg geflissentlich, dass Admiral Horne der Hydra alles abverlangt und dabei fast ihre gesamten Kopernium-Vorräte aufgebraucht hatte. Und trotzdem waren sie erst nach der Minerva hier eingetroffen. 

Depraved New World (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt