Tycho blickte in die undurchdringliche Schwärze des Weltalls hinaus.
Erinnerungen an ihre Reise in die Neue Welt strömten durch ihren Kopf. Sie war fünfzehn gewesen, als sie auf Elder Patria an Bord des Frachtschiffes nach Neo Patria gegangen war. Da sie im Chaos der Letzten Tage von ihren Eltern getrennt worden war, hatte sie die lange Reise zusammen mit einer Lehrerin vom Internat, das sie zum damaligen Zeitpunkt besucht hatte, angetreten. Frau Donjon. Eine strenge, ältere Dame, die sich im Laufe der Monate jedoch als ideale Ersatz-Mutter entpuppt hatte, sehr zu Tychos und wohl auch zu ihrem eigenen Erstaunen.
Erst ein Jahr nach ihrer Ankunft auf Neo Patria war es Tycho gelungen, ihre leiblichen Eltern wiederzufinden. Die Wiedervereinigung war einigermaßen kühl ausgefallen. Tycho war ihrer Familie irgendwie entwachsen, wenn sie je wirklich dazugehört hatte. Zu allem Überfluss hatten ihre Eltern zu den Menschen gehört, denen es nie gelingen sollte, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen. Bereits, als sie zum ersten Mal einen Fuß auf den Planeten gesetzt hatten, schien es ihnen die Laune verdorben zu haben. Unablässig hatten sie davon geredet, in ihre alte Heimat zurückkehren zu wollen, sobald sich die Bedingungen dort wieder verbessert hätten.
Das ist kein guter Ort, hatte Tychos Mutter immer zu ihr gesagt. Kannst du das nicht fühlen?
Aber Tycho hatte es nicht fühlen gekonnt. Und so kam es, wie es vermutlich hatte kommen müssen. Während Tycho die Militärakademie besuchte, hatten sich ihre Eltern einer gefährlichen Rückkehrer-Sekte angeschlossen und ihren Plan in die Tat umgesetzt. Dabei waren sie auf eine illegale Schlepper-Bande hereingefallen und tragisch verunglückt.
Wenn sie daran zurückdachte, fühlte Tycho sich immer noch schuldig. Sie hätte sich besser um den Gesundheitszustand ihrer Eltern kümmern müssen. Doch damals, in den ersten Jahren nach dem Großen Exodus, hatte es noch keine Bezeichnung für das gegeben, was ihre Eltern durchlebt hatten. Heute wusste jeder, was eine Anpassungsstörung war, aber damals hatte man sie einfach für verrückt gehalten.
»Sehen Sie sich das an«, ertönte die blechern klingende Kommunikator-Stimme ihres Adjutanten und riss Tycho aus ihren Erinnerungen.
Tycho wandte sich vom Anblick des Weltalls ab.
Sie befand sich auf der Brücke der Hydra, eines mittelgroßes Aufklärungsschiffs des IPSD. Links und rechts des erhöht verlaufenden Mittelgangs lagen die Kontrollstationen der Brückenoffiziere, im Zentrum befanden sich die Plätze des kommandierenden Offiziers und des Steuermanns. Derzeit lag das Kommando bei Admiral Horne, einem hageren Mann mit starrer Mimik und noch starreren Ansichten. Er hatte zur Besatzung eines der ersten Scout-Schiffe gehört, die in die Neue Welt vorgedrungen waren. Doch aus irgendeinem Grund schien ihn die Erfahrung nicht optimistisch gestimmt, sondern zunehmend verbittert zu haben.
»Haben Sie sowas schon einmal gesehen?«, fragte Zhang, während er sich über den Mittelgang näherte. In den Händen hielt er eine Kartusche mit mehreren türkisblau glühenden Ampullen. »Sieht aus, wie das Zeug, das man sich ins Gesicht schmiert.«
Tycho zog eine Augenbraue hoch. »Was schmieren Sie sich denn ins Gesicht?«
»Das wüssten Sie wohl gerne«, erwiderte Zhang und drehte sein Gesicht ins gedämpfte Chemo-Licht, sodass Tycho seine makellos glatten Wangen bewundern konnte.
»Was Sie da in der Hand halten, sind Plasma-Ampullen«, erklärte Tycho. »Die sind für den Prinzen.« Sie zog die Stirn kraus. »Wo haben Sie die her?«
Zhang trat neben Tycho. Er war nicht viel größer als sie, aber sein langer, schmal geschnittener Mantel und der wilde Lockenkopf verzerrten ihr Größenverhältnis zu seinen Gunsten. »Die Frau des Neoczaren hat sie unserer Bodencrew in die Hände gedrückt, kurz bevor wir abgehoben sind. Es war ihr wohl sehr wichtig, dass wir sie mitnehmen.«
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Depraved New World (ONC 2024)
Ciencia FicciónVor 21 Jahren hat sich die Menschheit im Rahmen des Großen Exodus in ein anderes Sonnensystem aufgemacht. Im Alter von vier Jahren kam Alloy als Waise in die neue Welt, die der Neoczar der Menschheit errichten ließ. Jetzt ist sie eine junge Frau un...