Auch am Abend war die Anspannung noch immer deutlich spürbar. Umso dankbarer war Alloy dafür, nicht alleine zu Abend essen zu müssen.
Kurz nachdem der Gebetsruf vom Eddina-Tempel verstummt war, klopfte es auch schon an die Tür ihrer Wohnung, die sich über der Werkstatt befand.
»Ich mach auf!«, rief Jaxon, wischte sich die Hände am Spültuch ab und hastete in den Flur.
Im nächsten Moment hallte auch schon Vipers viel zu laute Stimme durch die Wohnung. »Das riecht aber gut! Was ist das?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Jaxon. »Frag meine Schwester.«
Alloy schmunzelte. Die meisten Menschen besaßen Küchenmaschinen, die aus einer undefinierbaren Masse namens Essenssubstanz beinahe jedes Mehrgängemenü zubereiten konnten. Doch da die Versorgung mit Essensubstanz in den ersten Jahren auf Nova Kauri schwierig gewesen war und weil Alloy gelesen hatte, dass die Menschen ihres Volkes traditionell lieber frisch gekocht hatten, hatte sie sich schon früh fürs Kochen interessiert und sich so manches selbst beigebracht. Sie konnte zwar nicht mit den meisten höherpreisigen Essensmaschinen mithalten, aber es reichte, um ihrer Familie und ihren Freunden ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.
»Ally ... du kleine Küchenfee«, säuselte Viper, trat hinter Alloy und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Was hast du heute Feines für uns?«
Alloy, die sich im Vergleich zu Viper immer wie eine Zwergin vorkam, hob den Topfdeckel an und ließ den heißen Dampf entweichen. »Das ist ein Erbsencurry mit Feroca und Joghurt.«
»Joghurt?«
»Die Milch ist von den Everton-Kühen draußen bei den Ruinen. Galen hat uns gezeigt, wie man daraus Joghurt macht.«
»Milch. Von Kühen«, sagte Jaxon mit hochgezogenen Augenbrauen, als wäre daran irgendetwas Besonderes.
»Ja. Da kommt Milch nunmal her«, erwiderte Alloy scharf.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Bishop, der in der Tür zur Küche stehengeblieben war. Wie immer war die rechte Hand des Patrons vom Vasilesko-Clan makellos gekleidet. Er trug einen perfekt sitzenden schwarzen Anzug, der mit zwei goldenen Salamandern rechts und links des Revers bestickt war. Darunter trug er ein ebenfalls schwarzes Hemd und eine gold-grün gemusterte Krawatte. Sein hellblondes Haar war geglättet und akkurat gescheitelt.
Doch das Auffälligste an ihm waren zweifellos die deutlich sichtbaren Körpermodifikationen. Der ganze untere Teil seines Gesichts, bis hinauf zu den Ohren, bestand aus Carbon- und Palladium-Bauteilen, die sich mattschwarz und silbern gegen seine blasse Haut abhoben.
Der Anblick wirkte auf die meisten Menschen bedrohlich und Alloy erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie sich als Kind vor Bishop gegruselt hatte.
Und es gab vermutlich auch genug Anlass, sich vor ihm zu fürchten. Alloy wusste nichts Genaues, aber der Vasilesko-Clan war kein harmloser Wir-wollen-unsere-Stadt-schöner-machen-Verein, auch wenn sich viele Mitglieder durchaus auf ihre Weise für die Stadt engagierten.
Doch ganz egal, was Bishop beruflich machte, er war ein Freund der Familie und Alloy vertraute ihm mit ihrem Leben.
»Hey, Bishop. Schön, dass du gekommen bist.«
Bishop nickte bloß. Er war kein Mann vieler Worte.
»Ihr könnt schonmal den Tisch decken«, sagte Alloy. »Es ist gleich fertig.«
Jaxon und Viper machten sich an den Schränken zu schaffen.
»Denkt ihr, sie werden Prinz Cassian bald kriegen?«, hörte Alloy ihren Bruder fragen.
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Depraved New World (ONC 2024)
Fiksi IlmiahVor 21 Jahren hat sich die Menschheit im Rahmen des Großen Exodus in ein anderes Sonnensystem aufgemacht. Im Alter von vier Jahren kam Alloy als Waise in die neue Welt, die der Neoczar der Menschheit errichten ließ. Jetzt ist sie eine junge Frau un...