KAPITEL 10 | AUF DER FLUCHT

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»Ich versteh nich, warum wir das machen«, grollte Jaxon, während er am Tunneleingang kauerte und die gegenüberliegende Abzweigung beobachtete.

»Alloy hat es doch erklärt«, flüsterte Bishop.

»Ja, aber du glaubst diesen Scheiß doch nicht etwa, oder?«

Bishop schwieg.

Als Jaxon klar wurde, dass er von ihm keine Antwort bekommen würde, ächzte er leise und ließ den Kopf gegen die kalte Tunnelwand sinken. Seine Augen brannten noch von dem seltsamen Heulkrampf, der ihn beim Betreten der unterirdischen Höhle überkommen hatte. 

Wenn er ganz ehrlich war, hatte er nur die Hälfte von dem verstanden, was Alloy ihnen erklärt hatte. Er wusste nur, dass der Prinz der Mörder des Neoczaren war. Des Mannes, der ihnen allen das Leben gerettet hatte. Was für eine Rolle spielten da schon ein paar alte Ruinen und leuchtende Skelette? Glaubte er, dass der Neoczar den Untergang dieses fremden Volkes herbeigeführt hatte? Nein. Der Neoczar würde so etwas nicht tun. Davon war Jaxon überzeugt. Aber diesem Cassian traute er nicht über den Weg. Bestimmt hatte er seiner Schwester dieses Lügenmärchen erzählt, damit sie sich auf seine Seite schlug. Und was den Metalltrichter in seiner Brust anging ... das Ding sah scheiße aus, war aber kein Beweis für gar nichts. 

Gleichzeitig hoffte Jaxon, dass der Prinz die Wahrheit gesagt hatte. Denn das bedeutete, in nicht einmal vierundzwanzig Stunden wären sie das Problem auf jeden Fall los. Allerdings befürchtete Jaxon, dass ihnen der Prinz bis dahin noch viel Ärger bescheren würde.

Wie um sich zu vergewissern, dass der Ärger nicht direkt hinter ihm lauerte, wandte er den Kopf und hielt nach Alloy und dem Prinzen Ausschau. 

Der Prinz lehnte mit dem Rücken an der Wand. Sein Bein war notdürftig verbunden. Er trug die Uniform der czarischen Luftabwehr, aber er war kein Soldat und auch kein Pilot, das sah man auf den ersten Blick. An der Militärakademie wären ihm die langen Haare sicher längst abgeschoren worden. Obwohl der Prinz groß und einigermaßen durchtrainiert aussah, hatte Jaxon das Gefühl, dass er ihn lässig zu Brei schlagen könnte, wenn es darauf ankäme. Der Prinz war kein Schläger, vermutlich hatte er sich noch nie richtig geprügelt.

Nein, dieser feige Wichser schlägt nur Mädchen, schoss es Jaxon durch den Kopf. Dabei breitete sich ein mehliger Geschmack in seinem Mund aus. 

Vierundzwanzig Stunden hin oder her, er würde dem Prinzen noch eine verpassen, bevor seine Zeit ablief. Wenn sie denn überhaupt ablief.

»Sie kommen«, raunte Bishop und signalisierte ihnen, sich tiefer in den Tunnel zurückzuziehen.

Jaxon setzte sich in Bewegung, fasste Alloy am Arm und zog sie mit sich, während Bishop den Prinzen stützte.

»Bist du dir ganz sicher, dass wir das machen sollten?«, flüsterte Jaxon seiner Schwester zu.

»Was ist denn schon dabei?«, flüsterte sie zurück, stellte den Käfig mit dem komischen, weißen Vogel auf dem Boden ab und fasste zwischen den Gitterstäben hindurch, um dem Tier den Schnabel zuzuhalten. »Wir bringen Cassian zum Madrefio. Er übergibt seine gesammelten Beweise an jemanden von den Separatisten und wir gehen nach Hause.«

»Na, ich weiß nich«, raunte Jaxon. »Mir kommt das alles so vor wie damals, als du diese Katze gefunden hast.«

Alloys Augen leuchteten auf. »Herrn Leopold?«

»Ja. Genau.« Jaxon schob Alloy um eine Tunnelbiegung. »Du hast damals gesagt, wir würden ihn nur für eine Nacht behalten. Bloß, damit er nich erfriert.«

Alloy kicherte leise. »Stimmt.«

»Und dann haben wir ihn fast zehn Jahre lang durchgefüttert.«

»Na und? Er muss auf einem der Transportschiffe mitgeflogen sein und war ganz alleine.«

Depraved New World (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt