KAPITEL 9 | ALARMSTUFE ROT

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Alloy war sprachlos. Sie wollte nicht glauben, dass Cassian ihr die Wahrheit erzählt hatte. Andererseits ... wieso hätte er sie anlügen sollen? Wieso hätte er sich diese völlig verrückte Geschichte von Kopernium-Therapien und Körpertausch ausdenken sollen?

»Ich weiß, das klingt irre«, sagte der Prinz, während er seine Jacke langsam wieder zuknöpfte.

»Nein«, hauchte Alloy. »Nein ... ich meine, es ist ein bisschen schwer zu glauben, aber ...« Sie räusperte sich. »Hast du deinen Vater deswegen getötet?«

»Ich musste es tun«, erwiderte Cassian. »Um meinen Bruder zu beschützen.«

»Prinz Stellan?«

Cassian nickte und tastete in der Umgebung nach seiner Zahnrad-Anstecknadel. »Ja. Mein Bruder ist zwar der Ältere von uns, aber irgendwie war er immer Vaters kleiner Liebling. Er hat auch immer alles gemacht, was Vater ihm gesagt hat. Sogar die Kopernium-Therapie und die Aussicht darauf, Vaters neuer Fleischanzug zu werden, haben ihn in keinster Weise beunruhigt.« Ruckartig stand Cassian auf. Durch den Schwung der Bewegung löste sich sein Haarband und die langen, pechschwarzen Haare fielen ihm offen über die Schultern. »Er hat immer an das geglaubt, was Vater gesagt hat. Hat ihn förmlich wie einen Heiligen verehrt. So wie alle Anderen in der Neuen Welt.«

»So zu leben, war sicher nicht leicht«, murmelte Alloy, weil sie nicht wusste, was sie sonst dazu sagen sollte.

»Nein.« Cassian betrachtete Pea, die leise summend in ihrem Käfig hockte, und seufzte. »Nein. Das war es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine, wir haben uns oft gestritten, aber das war bloß-«

Cassian brach ab, als wäre er kurz davor gewesen, etwas Kitschiges zu sagen. Stattdessen ging er zu seiner Tasche und nahm ein zylinderförmiges Objekt heraus. Er entfernte sich ein paar Schritte, stellte das Ding auf den Boden im Zentrum der freien Fläche zwischen den Säulen und Rundbögen und drehte die Oberseite, bis ein Klicken ertönte.

»Was ist das?«, fragte Alloy.

»Ein 360-Grad-Terrain-Scanner«, antwortete Cassian.

Kaum hatte er das gesagt, sprang der Deckel des Objekts ein Stück weit auf und rotes Laserlicht brach aus dem entstandenen Spalt.

»Die werden normalerweise zum Kartographieren von Landschaften benutzt. Ich mache damit eine Aufnahme von Jawira.«

»Wieso?«

»Aus Beweisgründen.« Cassian wandte das Gesicht ab, um nicht von den rotierenden Laserlichtern geblendet zu werden. »Ich habe Kontakt zu einer Organisation, die das Imperium meines Vaters zu Fall bringen will.«

Alloy erinnerte sich wieder daran, was Prinz Stellan in seiner Fernsehansprache gesagt hatte. »Eine Separatistenbewegung?«

»So nennen sie es.« Cassian schnaubte. »Aber eigentlich sind es nur ein paar Menschen wie du und ich, die verstanden haben, dass mit der Neuen Welt etwas nicht stimmt. Dass wir unsere Heimat mit dem Blut eines anderen Volkes erkauft haben - und dass uns das über kurz oder lang umbringen wird, wenn wir nichts unternehmen.«

»Uns umbringen?«, echote Alloy entsetzt.

Cassian nickte. Zwei rote Laser-Lichtbündel wanderten in entgegengesetzten Richtungen durch die unterirdische Höhle und über die Mauern und Türme der Stadt. »Unveröffentlichten Angaben zufolge steigt die Zahl der Menschen, die unter einer so genannten Anpassungsstörung leiden, inzwischen in die Millionen.«

»Aber es leiden doch nur alte Men-«, begann Alloy, doch Cassian fiel ihr ins Wort.

»So war es zunächst auch. Aber inzwischen werden die Betroffenen immer jünger.« Sein Tonfall verschärfte sich. »Wir vergiften uns selbst mit den Gefühlen der Wesen, die wir getötet haben, um hier leben zu können.« Im Hintergrund wuchs der Scanner in die Höhe, sodass die Laser-Büschel auch höher gelegene Teile der Stadt erfassen konnten. Dadurch sah es beinahe so aus, als würden Cassian zwei strahlenförmige Flügel wachsen. »Aber niemand will das wahrhaben«, schob er hinterher. »Vor allem nicht mein Vater und mein Bruder. Sie werden die Bewohner der Neuen Welt weiter belügen, um ihren eigenen Heldenmythos und ihre damit einhergehende Macht zu beschützen.« Cassian warf Alloy einen finsteren Blick zu. »Das kann ich nicht zulassen.«

Depraved New World (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt