»Woher weißt du das alles?«, fragte Alloy. Da ihre Nase vom Heulen verstopft war, klang ihre Stimme dumpf und verschnupft.
Cassian seufzte leise. »Das glaubst du mir nie.«
»Aber ich soll dir glauben, dass der Neoczar ein ganzes Volk ausgerottet hat?«
»Ja«, antwortete Cassian ohne zu blinzeln oder zu zucken. »Glaub mir, mein Vater ist nicht der Heilsbringer, für den die meisten Menschen ihn halten.«
»Das mag ja sein, aber deshalb verdient er noch lange nicht den Tod.« Alloy zuckte mit den Schultern. »Ich meine, selbst wenn es stimmt, was du gesagt hast, hat er diese Entscheidung doch nur getroffen, um uns zu retten.«
Cassian betrachtete Alloy stumm. Noch immer reflektierten seine silbrig-grauen Augen den Schein der Kopernium-Lichter. »Es ist also okay, ein Volk auszurotten, um ein anderes zu retten?«
»Nein ...« Alloy wand ich. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Ihrer Meinung nach gab es auf dieses Dilemma keine moralisch einwandfreie Antwort. Egal, wie man sich entschied, ein Volk musste untergehen.
Oder wäre es möglich gewesen, mit den Einheimischen zu koexistieren? War diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen worden?
»Aber falls es dich beruhigt«, sagte Cassian. »Ich habe meinen Vater nicht deswegen getötet.«
»Ach nein?«, brummte Alloy.
»Nein«, sagte Cassian und wandte sich einem schmalen Pfad zu, der von der Klippe in die Stadt führte.
Alloy wartete noch einen Moment, dann folgte sie ihm.
Begleitet von Peas herzzerreißendem Pfeifen stiegen sie in die Tiefe.
Jawira war überraschend gut erhalten. Die meisten Gebäude hatten nur wenig Schaden genommen. Lediglich hier und da waren Fenster zersprungen, Mauern hatten Risse bekommen und Putz war von den Fassaden gebröckelt. Der eine oder andere Turm war abgebrochen oder umgekippt. Davon abgesehen, wirkte die Stadt beinahe unversehrt.
Schlimmer hatte es dagegen die Pflanzen erwischt. Alloy wusste nicht, ob das von dem Gas kam, mit dem die Grieza vergiftet worden waren, oder ob es sich um eine Konsequenz der lebensfeindlichen Bedingungen unter der Erde handelte, aber alle Bäume und Hecken, an denen sie vorbeikamen, waren abgestorben. Tote, graue Efeuranken schlängelten sich durch die Straßen, als hätten sie nach Jawiras Untergang noch eine Weile gelebt und wären dann langsam und qualvoll vertrocknet.
Bei diesem Anblick empfand Alloy erneut eine tiefe, lähmende Trauer. Doch sie war zu erschöpft, um zu weinen. Oder vielleicht hatte sie auch einfach keine Tränen mehr.
»In den Berichten stand, dass die Landplanungsmaschinen über dicht besiedelten Gebieten Fehlfunktionen hatten«, erklärte Cassian. »Normalerweise hätten sie hier alles umgraben und platt machen sollen, aber stattdessen haben sie die Stadt einfach mit mehreren Schichten Erde und Gestein zugedeckt.« Er schnaubte. »Und selbst dabei sind noch Ruinen an der Oberfläche zurückgeblieben.«
Alloy hörte ihm jedoch nur halb zu. Ihr Blick klebte an einem violett pulsierenden Kopernium-Klumpen, der nicht weit von ihnen entfernt an einer Kreuzung auf der Straße lag. Vorsichtig ging sie darauf zu. Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass es sich bei dem Gesteinshaufen einmal um ein lebendes Wesen gehandelt hatte, auch wenn sie – aus der Nähe betrachtet – ganz eindeutig Konturen ausmachen konnte, die ungewöhnlich waren und nicht zu einem Stein oder Kristall passten. War das die Wölbung eines Schädelknochens? Und das da vorne? Die knorpelige Hügellandschaft einer Wirbelsäule? Die becherförmige Vertiefung eines Beckens?
Ein leises Stöhnen ließ Alloy erschrocken zusammenfahren. Es dauerte einen Moment, bis sie Begriff, dass das Geräusch nicht von dem Kopernium-Klumpen, sondern von Cassian stammte.
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Depraved New World (ONC 2024)
خيال علميVor 21 Jahren hat sich die Menschheit im Rahmen des Großen Exodus in ein anderes Sonnensystem aufgemacht. Im Alter von vier Jahren kam Alloy als Waise in die neue Welt, die der Neoczar der Menschheit errichten ließ. Jetzt ist sie eine junge Frau un...