All diese bösen Gefühle, die ich am morgen gehabt hatte, waren mit einem Schlag wieder da. Die Aufregung, die Angst. Und die Gewissheit, dass etwas schreckliches passieren würde.
Die Maple street lag verlassen da. Die großen viktorianischen Häuser sahen gespenstisch aus. Wie eine Kulisse eines verlassenen Drehorts. Sie machten den Eindruck, als ob sie menschenleer seien, aber voller merkwürdiger anderen Wesen, die alles genau beobachten.
Da war es. Etwas beobachtete mich. Der Himmel war nicht blau, sondern milchig und verschleiert. Er wölbte sich über mich wie eine riesige umgedrehte Schlüssel. Die Luft war schwül und drückend. Ich fühlte, dass mich jemand ansah.
Ich erhaschte einen Blick auf etwas dunkles in den zweigen dea alten Quittenbaums vor dem Haus. Es war eine krähe. Sie saß völlig reglos im gelben Laub. Und sie musterte mich.
Ich versuchte, mir einzureden, dass das völlig verrückt war, aber tief in meinem inneren war ich mir sicher. Ea war die größte krähe, die ich jemals gesehen habe. Muskulös und geschmeidig, mit einem pechschwarzen Federkleid, auf dem sich das Licht in Regenbogenfarben brach. Ich registrierte jede Einzelheit: die gefährlichen schwarzen krallen, den scharfen Schnabel und das mir zugewandte, glitzernde schwarze Auge.
Der Vogel war so still, dass man ihn für eine Wachsfigur hätte halten können. Aber während ich ihn ansah, fühlte ich, wie ich langsam rot wurde. Die Hitze stieg in wellen an meinem Hals und meinen Wangen hoch. Weil er mich so......anstarrte.
Genauso wie die Jungs mich musterten, wenn ich einen Bikini oder eine knappe Bluse trug. Als ob er mich mit seinen Augen ausziehen wollte. Bevor ich überhaupt merkte, was ich tat, hatte ich bereits meine Tasche fallen gelassen und einen Stein vom Weg aufgehoben. >> Hau ab! >Hau ab! Mach, dass du wegkommst! << Mit dem letzten Worten warf ich den Stein.
In einer Schauer aus herabfallendem Laub entkam die Krähe unverletzt. Ihre ausgebreiteten Flügel waren riesig. Ich duckte mich unwillkürlich und geriet in Panik, als der große Vogel dicht über meinen Kopf hinwegflog. Der wind seines Flügelschlags wirbelte meine Haare durcheinander.
Aber die Krähe stieg höher und höher und kreiste wie eine schwarze Silhouette am weißem Himmel. Dann flog sie mit einem heiseren kräzchen in Richtung Wald davon.
Ich richtete mich langsam auf und sah mich verschämt um. Ich kann kaum fassen, was ich gerade getan habe. Jetzt, da der Vogel fort ist, ist auch die drückende Atmosphäre verschwunden. Ein leichter, frischer Wind raschelte in den blättern. Ich holte tief Luft. Ein paar Häuser weiter öffnete sich eine Tür und ein paar Kinder liefen lachend auf die Straße.
Ich lächelte und atmete noch einmal tief ein. Erleichterung durchflutete mich wie warmes Sonnenlicht. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Es war ein Tag voller Erwartungen und nichts böses würde geschehen.
Nichts böses, außer dass ich ausgerechnet am ersten Schultag zu spät kommen würde. Die ganze Clique wartete sicher schon ungeduldig auf dem Parkplatz.
Du kannst ihnen immer noch erzählen, das du stehen geblieben bist, um einen Stein nach einem aufdringlichen Typen zu werfen, dachte ich.
Das würde allen zu denken geben. Ohne zu dem Quittenbaum zurückzusehen, ging ich schnell die Straße entlang.
-Marios sicht-
Es raschelte in der Spitze einer Eiche. Ich hob meinen Kopf. Als ich bekannte, das es nur ein Vogel war, entspannte ich mich.
Mein blick fiel auf das leblose weiße Geschöpf in meinen Händen und fühlte tiefes bedauern. Ich wollte es nicht töten. Allerdings hätte ich was größeres gejagt als ein Kaninchen, wenn ich geahnt hätte, wie hungrig ich bin. Aber genau das war der Punkt, der mir Angst macht: nie das Ausmaß des Hungers zu kennen oder vorher zu wissen, was ich tun muss, um ihn zu stillen. Ich hab Glück gehabt, dass ich diesmal nur ein Kaninchen erwischt habe.
Ich stand neben der alten Eiche. Meine braunen haare glänzten in der sonne. In Jeans und T-shirt unterscheide ich mich, Mario Götze, kein bisschen von jedem anderen Oberstufenschüler.
Und doch war ich anders.
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