Till Wessley

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Eingequetscht zwischen einem längst geschlossenen und in Vergessenheit geratenem Tierheim hinter schweren, knarrenden Eisengittern und einem riesigen Fachwerkhaus, dessen triste und mit zahlreichen Graffitis besprühte Wände die Einfälltigkeit und die Lebensmüdigkeit der Einwohner perfekt widerspiegelten, lag der Club.
Das einzige Gebäude im Umkreis von gefühlten tausend Metern, aus dem Licht sprühte und Musik heraus quoll wie aus einem zu vollen Fass, in Strömen und in Form von harten, vibrierenden Bässen.
Das Licht flackerte in zahlreichen, gleißenden Farben im Takt der wummernden Musik auf.
Die Musik hingegen schien nur aus Bass und einem durchgängigen, schrillen Dröhnen zu bestehen, dass durch die Gegend zuckte und in die Körper der tanzenden, schwitzenden Menschen fuhr.
Es stank nach Alkohol, Kippen, Schweiz und Pisse, doch genau diese Mischung zusammen mit dem Dröhnen der Boxen und dem Flackern der Scheinwerfer schrie das sehnsüchtig Gefühl der Freiheit und der Liebe heraus aus den Körpern der Jugendlichen und hinaus in die umliegenden, längst gestorbenen Umgebung.

Till Wessley war zugegebener Maßen süchtig nach diesem Gefühl und so jagte er es, von Club zu Club, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Im Moment hatte ihn seine Jagt in die Tiefen einer französischen Kleinstadt gezogen, mitten ins Banlieu, dem Armutsviertel rund um die glänzende, wunderschöne Stadt Paris. Doch Paris interessierte Till nicht wirklich. Denn dort lag nicht dieser Drang nach Freiheit, dieser Hass auf das eigene Versagen und doch dieser verzweifelte Wille nach Liebe und Zuneigung, nach Geborgenheit in jedem einzelnen Quadratmillimeter der stickigen, durchseuchten Luft. Nein, etwas derartiges, etwas so einzigartiges und doch nahezu überall auf der Welt in der Nähe jeder größeren Stadt auffindbares Gefühl konnte er nur hier finden.
Es lag immer etwas außerhalb, in dem Kern der Städte brauchte man gar nicht erst danach zu suchen. Es trat eher etwas abseits am Rand auf. Dort, wo das Licht und der Glanz der scheinbar perfekten Fassade nicht mehr hinkam, in den Ecken und Abgründen der menschlichen Seelen, mit denen das Schicksal und das Glück es nicht gut meinten.

Tills Augen glitten langsam über die zuckende Menschenmasse, die sich vor ihm auf der grellen Tanzfläche rekelte und im Takt der Musik die geschundenen, müden Körper wippen ließ. Auch Till war müde, sehr sogar und besoffen, voll bis obenhin wenn man es genau nehmen wollte, doch auch das gehörte dazu. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück an die versiffte, langsam in sich zusammen fallende Bar und zog das Gefühl voll und ganz in sich auf. Wäre er nicht schon blau gewesen, dann würde er es jetzt werden, alleine nur von diesen Gefühl.
Doch dann hielt er mit einem Mal inne. Da war noch etwas, dass an ihm nagte, sich in seinen Geist fraß, seinen Körper wie bei dem unergründlichen Gefühl einer unaufhaltsam auf einen zurollende Gefahr in Alarmbereitschaft versetzte. Wie ein paar glühender Augen, das einem im Rücken lag, oder etwas genau wie das?
Till riss die Augen auf und erstarrte, doch dann entspannte er sich von einer Sekunde auf die nächste wieder.

Eine junge Frau, ja fast noch ein Mädchen hatte wohl ein Auge auf ihn geworfen und betrachtete ihn vom anderen Ende der Bar aus über den Rand ihres noch komplett vollen Koktailglases hinweg. Als sie mitbekam, dass er sie und ihren interessierten Blick bemerkt haben musste, wirkte sie für einen Moment leicht irritiert, dann jedoch entspannte sich ihre Miene, die Augen wanderten langsam zurück in das Glas und auf die feuerroten, schmalen Lippen legte sich ein sanftes Lächeln.
Till musste schmunzeln. Sie war hübsch, die Kleine. Wie sie da so saß, schlank und mit der glasklaren, hellen Haut, gehüllt in ein knappen Paillettenkleid, welches jedes Lichtfünkchen auffing und sie in den neonfarbenen Lichtern des Clubs scheinen ließ. Auch wenn sie ihm etwas zu sehr geschminkt war mit den knallroten Lippen, den dunklen Augen und den langen, scheinbar zahllosen Wimpern sowie dem leichten rosa Teint auf ihren Wangen. Aber ungewöhnlich hübsch war sie, da bestand kein Zweifel.

Till stieß sich mehr oder weniger elegant von der Bar ab und schwankte langsam auf das Mädchen zu. Wie alt sie wohl war? Durch die ganze Schminke in ihrem schmalen Gesicht konnte man das kaum erahnen. Er hatte schon Mädchen wie sie gesehen, in anderen Städten, aber der Club hätte der gleiche sein können. In ihren kurzen Kleidern und Röcken und mit diesem verlorenen, trüben Blick hatten sie da gestanden, gerade mal dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Doch in den Augen dieses Mädchens fand er nicht diesen üblichen Trott. Es lag etwas hartes und erfahrenes in ihrem Blick, das ihm sagte, sie müsse eigentlich schon deutlich über achtzehn sein.
Gott, diese Augen. Je näher Till ihr kam, desto intensiver schienen ihre Farben zu funkeln. Giftgrün, auf ungewöhnliche und anziehende Weise gefährlich und geradezu blendend schön.
Sie hielt seinem Blick mühelos stand während er so auf sie zukam, ihren leuchtenden Augen bis in die Dunkelheit ganz am Ende der Bar folgte. Nicht einmal senkte sie verlegen den Blick, nicht einmal erröteten ihre Wangen, nicht einmal ließ sie von ihm ab. Sie gefiel ihm, mit jedem Schritt ein bisschen mehr.

"Darf ich dir vielleicht was ausgeben?", schrie Till so galant es ihm nur irgend möglich war auf englisch über die schrille, laute Musik die sie umgab hinweg in ihr Ohr.
Sie roch gut, ihr Haar war seidenglatt und unglaublich weich, die Haut so makellos wie er es auch schon von weitem her hatte erahnen können und kalt. Kalt wie Eis trotz der erdrückenden Hitze und der ganze schwitzenden Körper um sie herum. All das registriert er, als sie unvermittelt nach seiner Hand griff, ihn noch näher zu sich heran zog und gerade so laut flüsterte, dass er es eben noch hören konnte. "Ich habe noch genug.".
Ihre Stimme jagte ihm einen Schauer über den Rücken, so unvermittelt und eisig traf sie ihn, wie der Schock, der einen überkommt, wenn man aus Versehen unter eine kalte Dusche springt in der Erwartung von warmen, gut tuendem Wasser.

Dann war sie auch schon aufgestanden, ließ seine Hand allerdings nicht mehr los und so ließ er sich von ihr ohne jegliche Widerworte und ohne wirklich zu registrieren, was er da eigentlich tat, in die Damentoillete schleifen. Es stank erbärmlich und überall auf dem Boden verstreut lagen undefinierbare Dinge, von denen Till allerdings auch nicht wirklich wissen wollte, was genau es war oder zumindest einmal gewesen war. Eine Kabinentür war eingetretenen und der Hahn eines kaputten Waschbeckens ließ unentwegt und in monotonen, gleichmäßigen Abständen braunes Wasser auf den Boden tropfen.
Doch mehr nahm er auch schon nicht war, da presste sie ihn vor sich gegen die, mit Edding und den gewöhnlichen Sprüchen, allerdings diesmal auf einer Sprache, die er nicht verstand, vollgeschmierte Wand und betätigte den Lichtschalter, sodass es um sie herum komplett dunkel wurde.
Till nahm das zwar wahr und wunderte sich auch, doch beschweren oder gar auch nur etwas sagen tat er nicht. Zu perplex und zu betrunken war er, als dass sein Gehirn all die Warnzeichen und Signale, die sein Körper ihm sendeten, richtig deuten konnte. Stattdessen nahm er überdeutlich ihre kühlen Finger wahr, die langsam und tanzend über seinen Oberkörper fuhren und unter sein Shirt glitten. Kleine, kribbelnde Blitze durchfuhren seinen gesamten Körper und er schloss zufrieden stöhnend die Augen.
"Wie...wie alt bist du eigentlich? ", hatte er gerade noch genug Anstand zu murmeln, da durchfuhr ihn ein höllischer Schmerz und er schrie entsetzt und völlig überrumpelt auf.
Da steckte etwas in seinem Bauch.
Mitten in seinem Bauch.
Etwas langes, spitzes.
Mitten drin.
Konnte das?
Nein!
Sein Atem ging schneller und der Schweiz brach ihm aus als ihm klar wurde, dass es gar keine andere Möglichkeit gab.
Es war ihr Fingernagel!

After Death, Das GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt