Amanda Gwardaschski

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Amanda Gwardaschski verstand es, unsichtbar zu sein.

Schon früh hatte sie begriffem, wie man es anstellt. Das es gar nicht so viel Übung und Anstrengung braucht. Man muss sich sicher sein, das ist das einzige. Sicher, in dem was man tut und in dem was man ausstrahlt. Sonst merken sie es. Die Menschen. Ausstrahlung, den ersten Eindruck. Mehr braucht es nicht und die Gehirne der anderen arbeiten für Amanda weiter.

Sie sehen dich, ihre Augen schweifen für weniger als eine Sekunde deine Gestalt und sofort haben sie ein Bild von dir vor Augen. Das ist einfach so. Reflekt. Man merkt es schon gar nicht mehr. Auch dass kommt Amanda gelegen. Es ist das natürlichste der Welt, an jemandem vorbei zu laufen und sich direkt und unweigerlich eine Meinung über ihn zu bilden, ohne zu hinterfragen, ohne genauer hin zu schauen. So sehen die Menschen Amanda an und denken: "unscheinbar, unwichtig" und prompt haben sie sie auch schon wieder vergessen.
Ohne das gierige Funkeln in ihren giftgrünen Augen wahr genommen zu haben. Ohne das Wissen und das verschmitze Lächeln in ihrem nicht zu hübschen, nicht zu hässlichem Gesicht zu bemerken. Ohne die Waffe auch nur zu erahnen, die hinten in ihrem Gürtel steckte.

Amanda schlängelte sich weiter durch die Menschenmassen und versuchte das Grinsen in Zaum zu halten, welches sich immer wieder auf ihre Lippen stahl. Man musste nur wissen, wie man es anstellte und schon stand einem die ganze Welt offen.
Sie hielt locker mit dem Rennen der Massen mit, schob sich etwas an den Rand, streckte in sekundenschnelle eine Hand hinaus und stibitzte vom nächst gelegenen Obststand einen Apfel. Niemand merkte erwas.
Ihr Lächeln wurde breiter und der glänzende rote Apfel schmeckte gleich noch ein bisschen besser als sie genüsslich hineinbiss.
Ihre Augen huschten unermüdlich weiter umher und suchten jeden Zentimeter ihrer nächsten Umgebung ab. Am Ende der packevollen Einkaufsstraße in einer kleinen dunklen Ecke lag der Stand einer Händlerin, die eisgekühlte Getränke verkaufte. Ein Wasser, mehr brauchte sie nicht.
Gelassen und ohne Eile schlenderte sie hinüber und blieb kurz vor dem kleinen Tischchen stehen, ließ den Blick schweifen als könnte sie sich noch nicht ganz entscheiden, was sie kaufen sollte. Wasser oder doch lieber Saft?

"Kann ich Ihnen helfen, Miss?". Von einem Schlag auf den anderen schien die Luft um sie herum zu gefrieren und Amanda lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dabei waren es doch eben noch über dreißig Grad Celsius gewesen, Hochsommer! Doch diese Stimme. Gott, diese Stimme war der Kältetod höchst persönlich. Sie wusste sofort und noch bevor sie den Kopf gehoben und dieser Bestie in die funkelnden Augen gesehen hatte, wer da vor ihr stand.

Ihr Hirn schaltete blitzschnell um und begann auf Hochtouren zu arbeiten. Amanda war vorbereitet, daran sollte es nicht scheitern. Jahrelanges Training und zahlreiche praktische Übungen lagen auf ihrer Seite und doch spürte sie wie sich ihr sämtliche Haare aufstellten und die lange, feuerrote Narbe an ihrem rechten Oberschenkel zu brennen anfing, als wolle sie sie überdeutlich an die Gefährlichkeit und Gnadenlosigkeit ihrer Gegenüber erinnern. Als ob sie das nicht selbst wüsste!
Für immer würde sie sich an jene Nacht erinnern können. Ob sie nun wollte oder nicht. Sie verfolgte sie in ihren dunkelsten Träumen, bis hinein in die sonnendurchflutetsten Tage und ließ sie am ganzen Körper erschaudern. Nie würde sie ihr ganz entkommen können. Nie diesen Schmerz vergessen. Nie diese Narben verblassen lassen.
Diese erdrückenden Dunkelheit. Nur ihre zahlreichen Augen, die aus jedem verdammten Schatten zu funkeln schienen. Diese Totenstille. Nur ihr eigener, hektischer Atem. Dann sein Schrei. Sein schrecklicher Schrei. Sein letzter. Ihr Herz starb ein weiteres Mal und es tat mindestens genau so weh wie in jener Nacht.

Amanda hielt den Kopf leicht gesenkt und versuchte, so gut es ihr möglich war, die Tränen zurück im ihr tiefstes Inneres zu zwingen und die feuchten, zitternden Hände in den Taschen ihres Rocks zu verstecken. "Nein, vielen Dank."
Dann drehte sie sich um und ging langsam und festen Schrittes in die gegenüberliegenden Richtung davon. Die roten Augen der Frau hinter dem Obststand deutlich bewusst in ihrem Rücken wahrnehmend.

Wie konnte das nur möglich sein? Seit über zwei Jahren hatte sie jetzt nichts mehr von ihnen gehört. Sie waren so gut wie ausgestorben. Doch diese Frau war nicht tod, zumindest nicht ausgestorben. Nein, ganz im Gegenteil. Sie schien eher am Höhepunkt ihrer Kräfte zu sein. Gefährlich, brutal, gnadenlos und voller Hass und Rache. Nein, vergessen taten sie nie. Und das war schlecht für Amanda. Sehr, sehr schlecht. Blut für Blut.

Ihre Schritte beschleunigten sich. Bald schon rannte sie über den brennenden Asphalt. Aus war es mit ihrer Unsichtbarkeit. Die Menschen wichen verwirrt aus, riefen ihr verärgert hinterher. Doch Amanda rannte weiter. Ließ den glänzenden roten Apfel zu Boden prallen. Verlor die Flipflops. Sprintete weiter. Immer die Augen dicht hinter sich spürend, die sich in ihren Rücken brannten. In eine Gasse. Sie brauchte eine einsame, enge Gasse. Da würde sie die besten Chancen haben. Wenn sie überhaupt von Chance reden konnte.

Denn eins war ihr klar. Sie wusste, dass sie nicht mehr entkommen konnte. Sie wusste, dass sie ganz alleine, ganz auf sich gestellt war. Ihre Hand glitt nach hinten zu dem Griff ihres Messers. Nein, vergessen taten sie nie. Blut für Blut. Jene Nacht würde sich wohl jetzt nach all der Zeit des Versuchs des Vergessens bei Amanda rächen.
Sie würde sterben, aber vorher würde sie kämpfen. Für ihn.

After Death, Das GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt