Julie Witsh & Emil Kloncg

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Julie Witsh starrte entnervt vor sich aus der blankpollierten Fensterscheibe des Bentley Continental GT und spielte mit dem Saumende ihres Kleides herum.

Neben ihr auf der Fahrerseite hatte ein junger, elegant gekleideter Mann mit riesigem weiße-Zähne-Grinsen im Gesicht, fetter Sonnenbrille auf der gebräunten Nase und aufgestylten Haaren Platz genommen, der schon seit endlosen Stunden, so schien es ihr zumindest, von seiner neuen Arbeit und dem Erbe seines ach so verhassten Vaters erzählte.
Julie nickte, mal hier mal da, gab ab und zu ein zustimmendes Grummeln von sich und wünschte sich, sie wäre Zuhause bei einer schönen Tasse Cappuccino und eingekuschelt in der warmen, weichen Wolldecke vor dem Fernseher sitzen geblieben, statt jetzt hier neben diesem Kind zu hocken und sich seinen kompletten Arbeitsalltag anhören zu müssen, obwohl sie doch nur einmal nach dem Auto gefragt hatte.
Das Einzigen, wohl gemerkt, das sie erst dazu angeleitet hatte, stehen zu bleiben und sich dieses Prachtexemplar mal genauer anzuschauen.
Was war es aber auch für ein schmuckes Teil. Nur leider fand sie den Besitzer bei genauerem Hinschauen weitaus weniger anziehend als das Auto an sich.

Doch, was solls. Der Typ hatte ihr von dem angesagtesten und besten Restaurant hier in Santa Barbara vorgeschwärmt und so würde wenigstens ein gutes Essen und wahrscheinlich auch ein fantastischer Blick aufs wunderschöne Meer bei Sonnenuntergang für sie bei dieser Sache heruasspringen. Wenn schon kein Date.

Warum auch? Warum waren die meisten gutaussehenden Männer entweder bereits in festen Händen oder komplett selbstverliebt und langweilig? Oder lag es etwa an ihr? Zog sie solche Reinfälle praktisch von Natur aus an? Erklären würde das zumindest so einiges.
Resigniert seufzte Julie leise, ließ sich noch ein bisschen tiefer in das Polster des Sitzes sinken und begann, die Sekunden bis zu ihrer lang ersehnten Ankunft zu zählen.

Emil Kloncg schmeckte einen leicht metallischen Geschmack auf der Zunge und schreckte auf.
Graphit.
Er realisierte die Hand, die an seinen Lippen lag, den Bleistift, welchen diese umschlossen hielt, die Zähne, die auf dem Holz herumkauten.
Angewidert zog er die Hand zurück, fuhr sich einmal mit dem Ärmel seines Pullis über die Lippen und griff nach dem Weinglas, welches vor ihm auf dem kleinen Holztischchen stand.
Eine schreckliche Angewohnheit war das, aber er wurde sie einfach nicht los. Er bemerkte es noch nicht einmal, wenn er es wieder einmal tat.

Eine hübsche, kleine Kellnerin trat an seinen Tisch und lächelte ihm freundlich entgegen. "Darf es bei ihnen noch etwas sein, Sir?". Emil lehnte dankend ab und schaute ihr nachdenklich hinterher, als sie schwungvoll die Terasse verließ und er sie irgendwann in der Masse der Menschen aus den Augen verlor.
Irgendetwas übersah er.

Sein Blick glitt zu dem Meer zu seiner rechten und er starrte in die Weiten aus endlosem Blau. Es lag ganz ruhig und friedlich da, das Meer. Ab und zu bildete sich mal hier mal da eine kleine Welle und hinterließ ihre weiße Gischt am gold schimmernden Strand. Nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Ein Pärchen mit einem Hund. Drei junge Männer, die im seichten Wasser herumschlenderten. Ein Obdachloser, der ziellos durch den Sand trabte. Und Emil kam einfach nicht drauf. Er wusste, dass etwas da war, aber er fand es nicht. Und das trieb ihn langsam aber sicher in den völligen Wahnsinn.

Seufzend griff er sich an den linken Unterarm, spürte sofort die unnatürliche Hitze, die an seiner Hand zu nagen anfing und begann damit, leicht und vorsichtig die gereizte Haut unter dem Stoff seines Pullis zu massieren, während er den Blick wieder senkte und die aufgeschlagene Mappe vor sich mit zusammengekniffenen Augen fixierte, als könne er ihr so ein Geständnis entlocken, oder wenigstens einen Hinweis. Doch sie blieb still. Und Emils Verzweiflung wuchs.

Millionen von Buchstaben sprangen ihm von dem Papier her entgegen, formten sich zu Worten, zu Sätzen, zu nur allzu bekannten Tatsachen. Emil Kloncg las diesen verdammten Mist jetzt schon zum zwölften Mal komplett durch, doch jedes Mal übersah er es vom neuem. Er war sich sicher, dass es hier irgendwo zwischen den Zeilen stand. Aber wo denn bitte? Wo, wo er nicht schon mehr als gründlich gesucht hatte? Er hatte das hier praktisch alles studiert. Konnte selbst Romane mit seinem Wissen füllen und doch quälte ihn der Gedanke, dass da eine Lücke war. Eine ungemein wichtige Lücke. Nur versteckt. Unsichtbar für seine müden Augen.

After Death, Das GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt