Kapitel 28

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Jaxon

Blut rauschte in meinen Ohren und ich wünschte ich könne dieses betäubende Geräusch irgendwie stoppen. Stattdessen starrte ich mit benebelten Verstand aus dem Fenster des Taxis und drehte Däumchen. Nicht, dass diese Aktivität mich in irgendeiner Art und Weise ablenkte oder runterfuhr, doch trotzdem verspürte ich das Gefühl völlig durchzudrehen, wenn ich mich nicht bewegte. Irrationaler Blödsinn, wegen dem ich ununterbrochen mit meinem Bein auf und ab wippte. Henrys Seufzer überhörte ich dabei gekonnt. Es war mir egal ob ich ihn nervte, nein es fühlte sich beinahe an wie ein Erfolg an seinem Geduldsfaden zu zerren. Nach allem was dieser Idiot mir das letzte Jahrzehnt angetan hatte war es das Mindeste Maß an Genugtuung ihm hin und wieder so dermaßen auf den Sack zu gehen, dass er mich womöglich am liebsten aus diesem Taxi gestoßen hätte. Doch das würde er nicht tun. Unter anderen Umständen vielleicht, aber nicht in so einer Nacht wie heute. Wobei die Sonne schon in zwei Stunden wieder aufgehen würde. Schlaflos lehnte ich meine Stirn gegen die kalte Scheibe und biss mir auf die Unterlippe, um zu vermeiden, dass mir Tränen aus den Augen liefen. Henrys Blicke bohrten tiefe Löcher in meine Haut. Ich schloss die Augen, was sich als verdammter Fehler entpuppte, denn der plötzlichen Dunkelheit entsprangen böse Bilder. Isabel auf dem Boden, blutend und mit unzähligen Verletzungen. Hastig riss ich die Augen wieder auf und spürte wie sich mein Puls vom Schneckentempo in einen Raketenstart verwandelte und mein Blut ordentlich in Wallung brachte. Die Wirkung des Alkohols hatte bereits nachgelassen und ich stieß einen leisen Fluch aus, als meine Hand über die leere Brusttasche meiner Jacke fuhr. Ich hatte doch tatsächlich diesen beschissenen Flachmann im Sakko vergessen. ,,Alles in Ordnung?“ Offenbar hatte ich durch meinen Fluch die Aufmerksamkeit meines Bruders erlangt. Ich brachte ein knappes Nicken zu Stande, während sich meine obere Zahnreihe so tief in meine Lippe bohrte, bis ich einen bitteren Geschmack auf der Zunge hatte. Mein Herz raste immer schneller und mein Gedankenkarussell drohte ebenfalls die Geschwindigkeit zu erhöhen. Du kommst zu spät. Sie ist sicher schon tot. Jede Silbe zog die Schlinge um meinen Hals enger und machte mir das atmen schwer. Es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Miss Dunkin leider noch auf der Fahrt ins Krankenhaus verstorben ist. Ich presste mir die Hände auf die Ohren und verzog das Gesicht. Die Wände kamen immer näher und drohten mich zu erdrücken. Ein Schmerz auf der Brust, als würde ein Elefant darauf stehen und mit einem Rhinozeros um die Wette springen. ,,Jaxon?“ Die Stimme meines Bruders trat durch den Nebel meines Verstandes hindurch, klarte ihn aber nicht auf. Ich brauche Luft. Ich muss atmen. ,,Hey was ist los?“ Etwas Warmes berührte meinen Oberarm und es entpuppte sich als Henrys Hand. ,,Ich“ Mehr bekam ich nicht heraus, da ich nach Luft rang. Daraufhin öffnete der Ältere seinen Sicherheitsgurt und beugte sich zu mir rüber. Keine sonderlich schlaue Idee, aber darüber konnte ich mir jetzt nicht auch noch den Kopf zerbrechen. ,,Panikattacke?“ nuschelte der Blonde und zwang mich mit einem eindringlichen Blick in seine blauen Augen zu sehen, die hinter dem schwarzen Brillengestell hervorstachen. ,,Okay, hör mir zu. Konzentrier‘ dich nur auf mich. Was hast du vor einer Woche zum Mittag gegessen?“ Ich hob eine Augenbrauen, während meine rechte Hand meinen Brustkorb massierte. Ich wusste was Henry vorhatte, aber das zog bei mir nicht. ,,Bescheuerte Frage“ presste ich hervor und meine Stimme klang, als würde ich jeden Moment ersticken. ,,Das ist mir gerade scheiß egal. Ich habe keine Lust noch ein Familienmitglied zu verlieren, weil du vergessen hast wie man atmet. Also beantworte meine bescheuerte Frage!“ Ich schluckte schwer und schloss die Augen, um mein Gedächtnis nach einer wahrheitsgemäßen Antwort zu durchforsten. ,,Kartoffelgratin“ spie ich aus und konnte hören wie mein Bruder leise gluckste. ,,Seit wann isst du sowas? Du hasst Kartoffeln.“ Damit hatte er nicht ganz Unrecht. Trotzdem gefiel es mir nicht, dass er so über mich sprach, als würde er mich kennen. ,,Ich hasse Kartoffeln nicht. Pommes und Kroketten sind super.“ Henry verdrehte die Augen und knuffte mir gegen die Schulter ,,Ich denke jetzt sind wir quitt. Ich habe dir eine bescheuerte Frage gestellt und du mir ein noch bescheuertere Antwort gegeben.“ Der Blonde rutschte zurück auf seinen Sitz und schnallte sich mit einem leisen Klicken wieder an. ,,An meiner Antwort war rein gar nichts bescheuert. Du magst doch auch keine Tomaten und frisst zu allem Ketchup.“ Henry lachte und fuhr sich durch die Haare ,,Touché.“ Kopfschüttelnd legte ich meine Hände in den Schoß und sank etwas tiefer in den Sitz. Dieser Mistkerl hatte es tatsächlich geschafft meine Panikattacke abzuwenden. Mit einem Gespräch über fucking Kartoffeln. Ein schmales Grinsen legte sich auf meine Lippen und ich öffnete den Mund, um ihm zu danken, doch Henry kam mir zuvor, indem er ,,Gern geschehen“ murmelte und mein Lächeln teilte. Ein komischer Moment, doch überraschenderweise genoss ich ihn. ,,Du solltest öfter mit mir über Banalitäten diskutieren. Es scheint dir zu helfen und ist gesünder als Alkohol.“ Beim letzten Wort brach die Stimme des Älteren, weshalb mein Herz ein wenig krampfte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr er unter dem Verlust unseres Vaters leiden musste. Immerhin hatten die Zwei das eindeutig bessere Verhältnis gehabt und zusammen unter einem Dach gelebt. ,,Henry ich…es tut mir leid“ murmelte ich und, keine Ahnung was mich da geritten hatte, legte meine Hand brüderlich auf seinen Oberschenkel. Nicht lange, vielleicht für den Bruchteil einer halben Minute. ,,Danke“ erwiderte der Blonde, ohne mich anzusehen, doch das war okay. Wir hatten nie das beste Verhältnis zueinander gehabt und ich wusste, dass eine einzige Taxifahrt das sicher nicht ändern würde. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fragte Henry ,,Wollen wir reingehen?“ und deutete auf das große Gebäude vor dem der Wagen soeben anhielt. ,,Ja“ antwortete ich und versuchte mich hu sammeln, indem tief durch die Nase ein- und durch den Mund wieder ausatmete. ,,Wir können auch noch warten, wenn du Zeit brauchst“ - ,,Nein schon gut. Sonst dreh‘ ich gleich wieder durch.“ Henry nickte, bezahlte den Taxifahrer, gab ein saftiges Trinkgeld und schlurfte anschließend zusammen mit mir ins Krankenhaus. ,,Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?“ empfing uns sogleich eine nette Dame am Empfang der Notaufnahme. Weil ich meine Zunge verschluckt- und daraus resultierend vergessen hatte wie man sprach, übernahm mein Bruder diesen Part. Du schaffst das schon Izzy. Du bist meine kleine Kämpferin. Der Geruch von Krankenhaus flutete meine Riechzellen und ich schauderte. Von nun an würde ich durch den Mund atmen. ,,Sie darf uns keine Auskunft geben, weil wir nicht mir ihr verwandt sind. Wer hätte das gedacht?“ Henry stöhnte genervt und schob seine Brille den Nasenrücken hoch. ,,Das heißt also warten.“ Der Ältere fiel auf einen Stuhl im Wartebereich der Notaufnahme und klopfte zwei Mal auf den freien Platz neben sich. Kraftlos sank ich neben ihn, streckte die Beine auf und überkreuzte sie Füße. Ich werde diesen dämlichen Kyle eigenhändig erwürgen. ,,Hast du Hunger? Da hinten ist ein Süßigkeiten Automat“ Mein Bruder unterbrach meine Gedanken und ich nickte wie betäubt, bevor er stöhnend aufstand und seinen Geldbeutel zückte. Kurz darauf kam ein weiterer Notfall rein. Die ruhige Empfangshalle verwandelte sich plötzlich in ein Fußballstadion. Lauter verschiedene Geräusche und Stimmen, die durcheinander sprachen, schrien, weinten. ,,Ma‘am Sie müssen uns jetzt bitte unsere Arbeit machen lassen. Bitte treten Sie zurück. Ihr Sohn ist bei uns in guten Händen.“ Ein Sanitäter redete wild auf die junge Mutter ein, die in weniger als einer Minute drohte wie ein Kartenhaus in sich zusammen zu fallen. Vorsichtig ging ich auf sie zu und fixierte sie an den Oberarmen. ,,Beruhigen Sie sich. Sie werden alles tun, um Ihrem Sohn zu helfen.“ Die Rothaarige fiel mir schluchzend in die Arme, während der Sanitäter mir einen dankbaren Blick zuwarf. ,,Setzen Sie sich und ruhen Sie sich aus. So hart das jetzt auch klingt, aber im Moment können Sie nichts für Ihren Sohn tun.“ Das Schluchzen der Frau ebbte langsam ab und sie fuhr sich mit der Hand über ihre nassen Wangen. ,,Sie haben ja Recht, es ist nur…wir sind im Streit auseinander gegangen, wegen dieser blöden Party und dann...jemand hat ihm Drogen ins Getränk gemischt…ich will einfach nicht, dass das letzte Gespräch zwischen uns ein Streit war, wissen Sie?“ In meinem Herz flammte unaufhaltbarer Schmerz auf. Und wie ich wusste, was sie meinte. Bei meiner letzten Begegnung mit Izzy hatte ich ihr das Herz entrissen und Fußball damit gespielt. ,,Ich verstehe sehr gut was Sie meinen, aber so dürfen Sie nicht denken. Er wird es schaffen, da bin ich mir ganz sicher.“ Die Frau nickte und verlor noch ein paar stumme Tränen. Henry kam mit zwei Schokoriegeln und zwei Wasserflaschen zurück. Ich brach meinen Riegel entzwei und reichte die zweite Hälfte der verzweifelten Mutter. Es verging eine Stunde, bis sie gerufen wurde, um ihren Sohn sehen zu dürfen. Ein Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit und ich drückte ihr die Daumen. Ich will einfach nicht, dass das letzte Gespräch zwischen uns ein Streit war, wissen Sie?

 ,,Langsam verliere ich ernsthaft den Verstand, Henry“ knurrte ich nach einer weiteren vergangenen Stunde und entschied mich schlussendlich dazu nochmal am Empfang vorbeizuschauen. Die Dame lächelte schmal und legte den Kopf bemitleidend schief. ,,Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keine Auskunft geben darf. Warten Sie, bis die Besuchszeit beginnt und sprechen Sie mit einem Familienangehörigen von Miss Dunkin.“ Kopfschüttelnd stützte ich meine Hände auf das Pult, hinter dem Carol, so entnahm ich es ihrem Namensschild, saß. ,,Eigentlich wollte ich fragen, ob sie etwas zum Schreiben für mich hätten.“ Ich brauchte einfach eine Beschäftigung, ansonsten bestand die Gefahr einer weiteren Panikattacke und noch ein Gespräch über Kartoffeln hielt ich nicht aus. ,,Wenn das in Ordnung ist?“ Sie schon mir ein leeres Blatt Papier und einen roten Fineliner rüber. ,,Vielen Dank“ sagte ich und setzte mich zurück in den Wartebereich, wo Henry mit dem Kopf im Nacken und geschlossenen Augen leise vor sich hin schnarchte. Irgendwie muss er ja seinen Rausch ausschlafen. Schluckend begann ich die Worte zu Papier zu bringen, die eigentlich schon viel früher hätten über meine Lippen kommen müssen. Ich wollte endlich reinen Tisch machen und hoffte inständig, dass es dafür noch nicht zu spät war. Leider war ich kein guter Redner, zumindest nicht wenn es um meine eigenen Angelegenheiten, besonders meine Vergangenheit, ging. Also schrieb ich es auf. Von meiner Kindheit,  über die Pubertät, bis hin zum verkorksten Verhältnis zu meiner Familie und den ständigen Vorwürfen. Ein paar Tränen kullerten mir über die Wangen und landeten teils auf dem Papier, doch glücklicherweise verschwamm die Tinte nicht so, dass man mein Geschriebenes nicht mehr entziffern konnte. Ich will einfach nicht, dass das letzte Gespräch zwischen uns ein Streit war, wissen Sie?

,,Jax“ Eine männliche, sanfte Stimme weckte mich auf. Ich zuckte kaum merklich zusammen und brauchte ein paar Sekunden, bis ich wusste wo wir uns befanden. Im Krankenhaus. Ich schluckte schwer und musste wenig später feststellen, dass mir alles weh tat. War ich ernsthaft auf diesen mickrigen Stühlen eingepennt? So wie sich mein Nacken anfühlte hatte ich eine Zeitreise in die Steinzeit gemacht. ,,Oh fuck“ brummte ich und drehte meinen Kopf in sämtliche Richtungen. ,,Da Vorne“ Henry deutete auf Isabels Eltern und auf Mona, die den beiden verzweifelt hinterher trottete. ,,Mona!“ rief ich und erhaschte leider Gottes die Aufmerksamkeit des halben Krankenhauses, weshalb ich mich räusperte und Röte meine Wangen hinaufkroch. Die Blondine blieb stehen, während Izzys Eltern hinter einer automatisch-öffnenden Stationstür verschwanden. ,,Hey“ Henry begrüßte die beste Freundin meiner…Isabel mit einer Umarmung, die so innig wirkte, als würden die Zwei sich schon Ewigkeiten kennen. ,,Wie geht’s dir?“ nuschelte sie an die Brust meines Bruders, während er ihr langsam über den Rücken fuhr. ,,Den Umständen entsprechend. Und dir?“ Als er sie sanft an den Schultern zurückschob sah man wie erschöpft sie war. Rote Augen und dunkle Schatten unter ihnen. ,,Den Umständen entsprechend“ erwiderte sie und lächelte schief. Dann glitt ihr Blick zu mir rüber und in ihrem Augen glomm Wut auf. ,,Was machst du hier?“ Ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie wütend auf mich war. ,,Ich möchte sie gerne sehen.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein leises Hauchen. Mona schüttelte den Kopf ,,Ich bin nicht sicher ob sie dich sehen will, Jaxon. Ich kann ihr gerne etwas ausrichten oder sie fragen, ob es okay ist wenn du sie besuchst. Aber sie ist sehr schwach und ich will nicht, dass sie sich aufregt.“ Ich wusste, dass es nichts bringen würde mit Mona zu diskutieren, also seufzte ich leise, willigte aber ein. ,,Würdest du ihr wenigstens den hier von mir geben? Sie soll erst entscheiden, ob sie mich sehen will, wenn sie ihn gelesen hat.“ Widerwillig nahm Mona meinen Brief an Izzy entgegen und stecke ihn zusammengefaltet in die Hosentasche. Gerade als die Blondine auf dem Absatz kehrt machen wollte, fuhr sie noch mal zu meinem Bruder herum ,,Ach und Henry? Du sagst mir Bescheid, wenn es etwas Neues zu Kyle gibt, oder?“ Der Blonde nickte, bevor sie zufrieden strahlte und hinter derselben Tür verschwand, durch welche Isabels Eltern zuvor verschwunden waren. ,,Dann schlage ich vor, dass wir jetzt was frühstücken gehen und darauf warten, bis Mona sich meldet?“ schlug mein Bruder vor und ich willigte ein. Also spazierten wir aus dem Krankenhaus heraus und nahmen und bestellten uns einen Uber, der uns an einem Café nur wenig  Meilen weiter absetzte. ,,Du und Mona, hm?“ durchbrach ich die Stille, als wir unsere Bestellungen aufgegeben hatten und am Tisch platznahmen. Henrys Wangen liefen Rot an und er hob eine Braue. ,,Was willst du damit sagen?“ - ,,Ich will damit sagen dass du sie mit deinen Blicken fast ausgezogen hast und eure Umarmung war…nunja…innig.“ Ich lachte und niss in mein Croissant mit Marmelade. ,,Du spinnst. Im Gegensatz zu dir besitze ich so viel Anstand, dass ich nicht ständig an Sex denke. Vor allem nicht in einem Krankenhaus Jaxon. Das ist unmenschlich.“ Je länger er brauchte um sich zu rechtfertigen, desto mehr verriet er sich. Schmunzelnd klopfte ich ihm auf die Schulter und murmelte mit vollem Mund ,,Schon klar, Henry.. Schon klar.“

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