Kapitel 7

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Vincent

Ich nehme einen weiteren, tiefen Zug von meiner Zigarette. Mein Fuß tippt unruhig auf den Boden, während ich mit den Fingern auf den Rand meines Gitarrenkoffers trommle. Seit eineinhalb Stunden sind wir jetzt am Proben und bisher läuft es sogar ganz... okay. Zumindest hatten wir es geschafft, die ersten Titel nach dem dritten Anlauf ohne Patzer zu spielen, bis Aarons Handy uns unterbrochen hatte. Doch die Pause schien uns allen gerade recht zu kommen, denn abgesehen davon, dass zumindest mein Körper nach Nikotin verlangt hatte, hatte sich niemand beschwert.
Auch, wenn ich nicht darüber nachdenken will, dass wir bereits in drei Wochen auf einer Bühne vor mehreren tausend Menschen performen und uns dem Urteil einer Jury aussetzen mussten und es bisher noch unendlich viele Baustellen gab.
Ein Gedanke, bei dem ich bereits jetzt ein nervöses Ziehen in meinem Magen spüre.
Das New Noise Bash Festival fand inzwischen zum dritten Mal statt. Trotz der Tatsache, dass das Event noch so "jung" war, hatte es schon einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Punk- und Rockszene erreicht. Vielleicht, weil die Organisatoren eng mit den Medien zusammenarbeiten, oder aber, weil in der Jury ein paar Vertreter großer Plattenfirmen saßen, die Ausschau nach neuen Talenten hielten und das Event mit Spenden und Workshops für die Nachwuchstalente unterstützen. Das NewNoise war über kurze Zeit in den Medien regelrecht explodiert, was vermutlich auch damit zu tun hatte, dass nicht nur Newcomer die Möglichkeit hatten, sich in der Szene zu etablieren, sondern auch bekanntere Bands immer mal wieder Gastauftritte hingelegt hatten.
Dieses Jahr gab es sogar einen "Special Guest", von dem bisher noch niemand wirklich wusste, wer es war, auch wenn ich schon die wildesten Ideen gehört hatte.
Insgesamt würden 15 Bands über zwei Tage verteilt auf drei Stages auftreten, von denen ein paar auch im Wettbewerb mitspielten, für den wir uns qualifiziert hatten. Das bedeutete im Umkehrschluss aber auch, dass wir uns etwas für den dreißigminütigen Auftritt und den unwahrscheinlichen Fall, es bis ins Finale zu schaffen, einen weiteren Song aussuchen. Das Problem dabei ist nur, dass wir die Auswahl bis Ende der Woche einreichen sollten und uns die Zeit gewissermaßen davonlief.
"Also, ich finde wir sollten "All i want" in die Setlist fürs NewNoise mit aufnehmen," sagt David, während er seine Drumsticks zwischen den Fingern hin und her dreht. Ich puste gestresst den Rauch in die Luft und lasse den Kopf wieder zurück gegen die Wand sacken. Je näher der Auftritt rückt, desto mehr stresst mich die Sache irgendwie. Dabei sollte ich mich eigentlich über diese Chance freuen. Denn auch wenn wir nicht gewinnen würden, hatten wir bereits allein durch den Auftritt gewonnen - trotzdem fühlt es sich gerade nicht nach einem Gewinn an.
"All i want ist doch sowieso schon als Opener drin," merke ich an und fahre mir mit der freien Hand über den Nacken. "Es wäre dumm ihn nicht mit rein zu nehmen. Immerhin haben wir den Song als Demo eingereicht. Er kam offenbar gut an und irgendwie wäre es komisch, wenn wir den nicht spielen... Aber es fehlen trotzdem noch mindestens 8 Titel bis die Liste voll ist und bis Ende der Woche muss ich der Jury eine Auswahl geschickt haben."
Erik, der neben mir an der Wand lehnt und bis eben geistesabwesend auf dem Display seines Handys herum getippt hat, hebt jetzt den Kopf. Ein Wunder, dass er es noch schafft, die Augen überhaupt vom Bildschirm zu lösen, denn seitdem wir beschlossen hatten, eine Pause einzulegen, kleben die Augen meines besten Freundes regelrecht auf seinem Handy, als hätte man ihm Sekundenkleber drauf geschmiert. Vor allem, weil das Telefon direkt in seine Hand gewandert ist, kaum, dass er den Bass zur Seite gelegt hat. Seitdem trudeln pausenlos Nachrichten von Sarah ein, was ich nur weiß, weil Erik immer mal wieder ihren Namen gemurmelt und dann wieder wild auf die Tasten eingedroschen hat.
Keine Ahnung was los ist, aber richtig bei der Sache ist er nicht. Dabei dachte ich, dass man sich weniger zu sagen hätte, wenn man unter einem Dach wohnte.
"Was ist mit Runaway?" Will er wissen, ehe er seinen Blick wieder auf sein Telefon richtet. David und ich tauschen einen Blick. "Der Song ist uralt," sagt der Brünette in einem deutlich freundlicheren Tonfall, als ich ihn jetzt anschlagen würde. "Das haben wir vor fünf Minuten schon besprochen." Der Stummel meiner Zigarette landet auf dem Gehweg. "Hättest du auch mitbekommen, wenn du nicht dauernd auf dein Handy schauen würdest." brumme ich leise und verschränke jetzt doch die Arme vor der Brust. "Worüber diskutiert ihr die ganze Zeit? Die Farbe der Vorhänge? Oder welche Bettwäsche ihr draufziehen wollt?"
Erik seufzt leise, statt zu antworten, schiebt das Telefon aber immerhin in die hintere Tasche seiner Jeans. Offenbar ist ihm mein leicht passiv aggressiver Tonfall doch nicht entgangen. Denn offenbar scheint er sich jetzt tatsächlich einbringen zu wollen. Erik löst sich von der Wand und sieht zwischen Dave und mir hin und her.
"Wieso machen wir es nicht einfach so, dass jeder eine Liste mit Vorschlägen macht und in die Gruppe schickt?" fragt er ruhig. "Aaron ist immer noch nicht da, er sollte auch mit entscheiden, was wir spielen wollen, oder nicht? Das wäre einfacher für uns alle und wir könnten uns auf die Probe konzentrieren. Oh und nur zu deiner Info: "Es ging um eine Kommode, die wir auf Ebay gekauft haben und später noch abholen wollen." setzt er mit einem Seitenblick auf mich hinzu.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, schlucke den bissigen Kommentar so gut es geht herunter. Eigentlich freue ich mich für die beiden. Immerhin ist Erik einer meiner engsten und dazu noch mein ältester Freund. Wir kennen uns seit dem Kindergarten und fuck, Sarah ist großartig! Doch irgendwie fällt es mir gerade schwer, dieser Freude Ausdruck zu verleihen.
"Weil es beim letzten Mal auch so gut geklappt hat, mit der Abstimmung?" frage ich den Blonden und ziehe zweifelnd die Augenbrauen zusammen. Erik stemmt die Hände in die Hüften und macht einen Schritt auf mich zu.
"Hast du einen besseren Vorschlag?" entgegnet er, was mich nur leise seufzen lässt.
Ehrlich gesagt habe ich das nicht, aber ich bin genervt.
"Alter, wir haben es nicht mal geschafft zu entscheiden, ob wir heute Pizza oder Döner essen wollen und die Abstimmung steht schon seit letzter Woche drin und bis jetzt haben wir theoretisch noch keine Entscheidung." halte ich also dagegen, " Sowas funktioniert bei uns nie. Unter anderem, weil jemand-" mein Blick wandert bedeutungsschwanger zu David hinüber, der wieder dazu übergegangen ist, mit seinen Sticks herumzuspielen, bevor ich fortfahre: "es einfach nie schafft, auf irgendeine verkackte Nachricht im Gruppenchat zu antworten. Oder für irgendwas abzustimmen." Jetzt schaut er mich an und hört endlich auf damit, seine Sticks zwischen den Fingern zu drehen, als er abwehrend die Hände hebt. Das rhythmische Klappern verstummt, dafür wirft mir der Brünette einen missmutigen Blick zu. "Ich bin nicht immer das Problem-" fängt er empört an, doch Erik unterbricht David direkt: "Sorry Bro, aber in der Sache gebe ich Vince recht. Du reagierst NIE, wenn man dir schreibt. Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt weißt, wie man das Teil benutzt!" meint er grinsend, woraufhin dieser nur ein leises Brummen von sich gibt. "Wenn es wichtig ist, werde ich es wohl schaffen zu antworten..." murrt er, kassiert dafür aber nur von Erik und mir einen skeptischen Blick."Du hast dich, als wir uns kennengelernt haben, vehement geweigert, PayPal zu benutzen, weil du es nicht "verstanden" hast, und es dir zu unsicher war, weil du nur Banken dein Geld anvertraust," fährt der Blonde ungerührt fort. "WhatsApp muss eine komplett neue Welt für dich sein, Mann. Ich meine, Handys sind schon gruselig genug. Das sind quasi kleine Computer, die wir mit uns rumtragen. Wie verrückt ist das denn?!"
"Hexenwerk!" stimme ich mit ein und löse die Hände, um damit vor Davids Gesicht herumfuchteln. " Wenn wir zu oft WhatsApp benutzen, könnte es sein, dass die bösen Marktforschungsinstitute uns abhören! Ich würde ja eine Wette abschließen, weil ich mir hundert Prozent sicher bin, dass ich gewinne," meine ich und sehe Erik an, kassiere dafür aber von David einen Stoß in die Rippen, den ich nur halbherzig abwehre. Stattdessen fange ich an zu lachen, was den Blick meines Kumpels noch etwas mürrischer werden lässt, denn auch Eriks Mundwinkel scheint inzwischen ein Lächeln zu umspielen. Natürlich ziehen wir unseren Kumpel nur ein bisschen auf, denn auch wenn es stimmt, dass David bis zum zweiten Semester keinen PayPal Account hatte, ist er kein Verschwörungstheoretiker.
"Schön, dass ihr euch amüsiert," grummelt er. "Aber einen Plan haben wir immer noch nicht. Und auf Aaron warten ist keine Option. Was macht der überhaupt da drin?"
Erik hebt die Schultern. "Keine Ahnung", sagt er und pustet sich eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn. "Telefonieren, denke ich?" David rollt mit den Augen und atmet hörbar aus. "Ach sag bloß du Genie," brummt er. "Ich wollte wissen mit WEM. Hat er etwa wieder jemanden? Datet er.. oder so?" Nun kann ich ein Lachen doch nicht unterdrücken, denn die Vorstellung, dass Aaron jemanden daten würde, ist absolut abwegig. Nach der Trennung vor einem halben Jahr hatte mein Mitbewohner kein einziges Date mehr gehabt. Aus guten Gründen. Zumal ich keinen Blick auf sein Handy werfen muss, um zu wissen, wer ihn seit fast einer halben Stunde am Telefon belagert. "Bullshit, wahrscheinlich geht's um diese komische Lerngruppe oder sowas." meine ich und lehne mich wieder gegen die Hauswand, um mein Drehzeug hervorzuziehen. Ich fische einen Filter aus der Packung und klemme ihn mir zwischen die Lippen, um anschließend etwas Tabak auf einem Papes zu verteilen. "Aaron geht nicht auf Dates. Das wüsste ich. Und ich habe keine Frau gesehen, die länger als eine Nacht geblieben ist..."
"Das es überhaupt IRGENDEINE Frau eine Nacht mit dir aushält ist ein Wunder, wahrscheinlich bleiben die nur aus Mitleid." stichelt Erik belustigt, was mich die Augen rollen lässt. Gleichzeitig bin ich aber auch froh darüber, dass er mir diesen idiotischen Spruch drückt, denn das bedeutet, dass er es mir nicht übel nimmt, wie ich mich vor ein paar Minuten noch verhalten habe.
"Kreativ." brumme ich nur. "Aber ich meine es ernst: Bei uns war ewig keine Frau zu Besuch, die Beziehungsabsichten hatte. Zumindest nicht das ich wüsste. Es sei denn, Aaron versteckt sie im Vorratsschrank zwischen den Müslipackungen, oder lässt sie unter der Treppe wohnen wie bei Harry Potter."
David zieht die buschigen Augenbrauen zusammen und legt nachdenklich den Kopf schief. "Ich dachte, ihr habt eine neue Mitbewohnerin." Sagt er. "Vielleicht läuft da ja was und du hast es nur noch nicht mitbekommen Vince?"
Meine Augen weiten sich überrascht. "Du... meinst Tessa?" Der Brünette nickt.
Ungläubig starre ich ihn an, warte darauf, dass David die Bombe platzen lässt und einen Witz hinterher schiebt, doch er sieht mich weiter ernst an. Das war offenbar kein Witz. Oh scheiße. Meine Augen wandern zu Erik. Der Blonde presst die Faust gegen seine Lippen und sieht so aus, als wäre er sich nicht sicher, ob er lachen oder weinen sollte. Verständlich. Auch ich presse die Kiefer zusammen und starre eine Sekunde auf den Kies unter meinen Füßen, scharre mit der Schuhspitze darin herum. Die Vorstellung, dass zwischen Tessa und Aaron etwas laufen würde ist einfach... nein! ich möchte nicht mal daran denken!!!
"Ja?" erwidert er unschuldig und sieht zwischen uns hin und her. "Wenn sie so heißt?"
"Alter, du musst echt den Gruppenchat lesen, Bro." brummt Erik, woraufhin Davids Blick nur noch verwirrter wird. "Was?" fragt er und drehte den Kopf nun hektischer von dem Blonden zu mir und zurück. "Wieso? Was ist damit? Hab ich ein Sextape verpasst oder so?" Ich seufze und presse Daumen und Zeigefinger gegen meine Nasenwurzel, um die Stelle zu massieren. "Alter, sie ist seine SCHWESTER!" presse ich hervor, woraufhin David mich erst nur einen Moment anstarrt und dann... grinst? "Ohhhhh" macht er gedehnt, ehe sich sein Gesicht merklich aufhellt. "Ich verstehe," Sein Lächeln wird breiter, als er die Hände in die Hüften stemmt. "Also hast DU was mit ihr?"
Entgeistert starre ich ihn an.
Jetzt weiß ich, dass mir gleich zwei Bilder Albträume bescheren würden! Denn selbst wenn Tessa nicht Aarons Schwester und somit sowieso tabu wäre, wäre sie immer noch Tessa! Tessa mit ihrer besserwisserischen, überkorrekten nervtötenden Art. Little Miss Perfect, die nur de den Mund aufmachen musste, dass es reichte, um mich zu einem Augenrollen zu bringen. Dabei ist es mir immer noch ein Rätsel warum sie sich ausgerechnet unsere WG als Zufluchtsort für die nächsten Monate ausgesucht hat, wo sie doch alles daran so sehr hasst. Immerhin kann ich mich noch gut daran erinnern, dass sie, bei einem der wenigen Male die ich sie gesehen hatte, kein Hehl daraus gemacht hatte, dass sie nicht wirklich viel von mir, der Wohnung oder unserer Band hielt, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß. Wobei das mit der fehlenden Sympathie wohl auf Gegenseitigkeit beruht. Deshalb sehe ich David jetzt auch perplex an.
"Ehm...Nein?! Abgesehen davon, dass die Kleine so gar nicht mein Typ ist, bin ich nicht lebensmüde. Scheiße, sie ist Aarons SCHWESTER!!!" David scheint nicht zu verstehen, was das Problem ist, denn er sieht mich nur verständnislos an. "Und?" fragt er immer noch verständnislos. "Wo liegt das Problem?" Ich stöhne leise auf. Wo das Problem liegt? Ist das sein ERNST?! "Das macht man einfach nicht. Aaron würde mir den Kopf abreißen und zwar zurecht!" erkläre ich ihm und schiebe mir die inzwischen fertige Kippe hinters Ohr. "Stimmt, Schwestern sind heilig, so wie Mütter," pflichtet Erik mir bei, "Wobei ich denke, dass diese : wenn-du-meiner-Schwester-das-Herz-brichst,-breche-ich-dir-die-Beine- Mentalität ein bisschen veraltet ist...Auch wenn es bei dir sicher sinnvoll ist das zu sagen." Setzt er mit einem bedeutungsschwangeren Blick nach. Ich lache leise und schüttle den Kopf. "Bullshit. Mütter lieben mich. Und Schwestern." Erik bläht die Backen auf. Die Luft weicht mit einem leisen Zischen heraus. "Genau deswegen..." murmelt er, doch ich sehe ihn jetzt etwas ernster an. "Das kannst du nur sagen, weil du keine Geschwister hast," meine ich. "Du stellst dir ja auch nicht vor, wie es wäre, was mit Juna anzufangen-" doch als ich Davids Blick bemerke, stocke ich. "Warte mal, du hast doch nicht...?!" Abwehrend hebt David die Hände. "Quatsch, ich bin doch nicht lebensmüde. Deine Schwester würde mich kalt machen! Juna ist ne Nummer zu groß für mich... Aber..."
"Sag nichts Falsches, sie ist meine Schwester!" zische ich drohend. Er hebt die Schultern. "Naja... sie ist hübsch und-..." Ich kneife die Augen zusammen. Mein Blick wird dunkler. "Willst du damit sagen, du würdest was mit meiner SCHWESTER ANFANGEN?!"Knurre ich und mache einen drohenden Schritt auf ihn zu, als die Tür zum Schuppen aufgeht und Aaron herauskommt. Dass er Dave damit den Arsch rettet, kann er nicht wissen. "Wer will was mit wem anfangen?" fragt er grinsend, bevor er ein: "Sorry, meine Schwester brauchte Hilfe. Irgendwas wegen dem Baumarkt und Farbe, keine Ahnung." Alarmiert ruckt mein Kopf nach oben. Dass ich mich dazu von David abwende, scheint ihm ganz recht zu sein, doch gerade ist die Sache mit Juna ein Stück auf der Prioritätenliste nach hinten gerutscht. "Warte, streicht sie das Wohnzimmer rosa?!" Aaron lacht, aber das überzeugt mich in dem Moment eher weniger. "Aaron ich meins ernst, was genau will Tessa streichen?!"
Kapitel 8

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