Kapitel 8

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Tessa

Das darf alles nicht wahr sein!
Gebannt starre ich auf die offene E-Mail auf dem Display meines Handys. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Ich muss träumen, allerdings kann ich mich noch nicht ganz entscheiden, ob es sich hier um einen Alptraum handelt oder nicht.
Mit einem verstohlenen Blick auf die Leute auf den anderen Sitzplätzen in der Bahn. Niemand achtet auf mich, also schließe ich kurz die Augen und lasse meine Hand zu meinem Unterarm wandern, um kurz hinein zu kneifen. Der Schmerz, der in meinem Arm explodiert, lässt mich überrascht zusammenzucken. Irritiert öffne ich wieder die Augen.
Die Zeilen sind immer noch da und scheinen mich mit jeder Sekunde, die ich sie weiter anstarre, zu verhöhnen.
Okay, kein Traum also.
Dabei weiß ich nicht mal, was ich erwartet habe. Dass sich die Mail plötzlich von selbst in den Papierkorb verschiebt? Natürlich nicht. Aber das hätte es jetzt um einiges leichter gemacht. Stattdessen fixiere ich immer noch die fetten, schwarzen Buchstaben, die mir mit einem Mal fast schon bedrohlich vorkommen.

Liebe Tessa,
da Jennifer krankheitsbedingt längerfristig ausfallen wird, brauchen wir eine neue Texterin für die Kolumne. Wie du weißt haben wir eine Reihe zum Thema Liebe, Sex und Dating in Zeiten von Tinder und Co. geplant, die in den nächsten 7 Wochen die Spalten füllen soll. - Die Artikel sollen sich tiefgründig und auf eine neue Weise mit dem Thema auseinandersetzen.
Heißt, wir wollen weg von den klassischen "die besten fünf Dating Tipps" Buzzfeed Seiten. Wir möchten unseren Leser:innen etwas authentisches, echtes präsentieren.
Da die Kolumne bereits angekündigt wurde, können wir sie nicht streichen. Da du im Rahmen deines Praktikums sowieso ein paar Artikel schreiben musst, wäre das doch eine tolle Gelegenheit dich kreativ auszuprobieren?
Gib mir bis Montag Bescheid. Ich freue mich von dir zu hören!

Liebe Grüße, Sophie

In den vergangenen drei Tagen hatte ich die Nachricht bestimmt an die hundert Mal gelesen. Doch jedes Mal, wenn ich wieder auf die Mail geklickt und gehofft hatte, dass sich die Zeilen verschieben, in Luft auflösen oder sich das alles wirklich nur als dumme Verwechslung entpuppen würde, war ich enttäuscht worden. Sie ist immer noch da und erinnert mich daran, dass ich mich dringend bei Sophie zurückmelden muss, denn bis Montag ist nicht mehr viel Zeit. Nicht, dass mich dieses kleine Detail noch mehr unter Druck setzen würde als eh schon. Abgesehen davon, dass das eine riesen Chance ist, bei der ich ohne zu zögern hätte JA schreien und einen Freudentanz hätte aufführen sollen, aber die Tatsache, dass ich ausgerechnet eine Dating Kolumne schreiben soll, fühlt sich eher wie ein schräger und vor allen sehr schlechter Scherz des Universums an. Denn wie ich es vor ein paar Tagen bereits versucht habe, Viola und Ally im Cafe zu erklären, sind Dates das Letzte, wofür ich im Moment Zeit habe.
Ich will mich auf mich konzentrieren und nicht auf irgendeinen Kerl!
Das ist auch der Grund, weswegen ich jetzt in der Bahn auf dem Nachhauseweg sitze und einen Eimer mit mintgrüner Farbe und eine Tasche gefüllt mit Dekoartikeln von Ikea zwischen meinen Füßen stehen habe. Den Entschluss, das Zimmer ein wenig mehr herzurichten, damit es nicht aussah wie die Zelle eines Insassen, hatte ich direkt nach dem Besuch im Cafe gefasst. Denn auch wenn ich nicht vorhabe, lange dort zu bleiben, kann man es sich zumindest so erträglich wie möglich machen, oder nicht? Vor allem wenn ich in den nächsten Wochen doch Besuch von meinen Freunden bekommen würde.
Aus diesem Grund habe ich auch direkt Aaron angerufen, um ihn zu fragen, welche Farbe ich überhaupt kaufen musste, um nicht auch noch die letzten Fetzen der Raufasertapete wegzuätzen. - Das Internet zu befragen war wenig aufschlussreich, denn offenbar konnte man eine Wand falsch streichen. Etwas, was ich vielleicht wüsste, wenn ich nicht zwei linke Hände hätte, was alle handwerklichen Dinge anging.
Eigentlich hatte ich das Projekt Zimmer Makeover noch bis zur nächsten Woche aufschieben wollen, aber da heute die letzten zwei Stunden in der Uni ausgefallen sind, habe ich das als Wink des Schicksals gesehen, um in den Baumarkt zu fahren. Vielleicht nutze ich das aber auch nur als einen Vorwand, um mich von dieser dummen Mail abzulenken und meine Antwort an Sophie noch ein bisschen hinauszuzögern.
Eine Kurzschlussreaktion?
Oder Prokrastination?
Wahrscheinlich ein bisschen von beidem, - auch wenn Vi meinen spontanen Entschluss als: "ultimativen Befreiungsschlag für den Aufbruch in ein neues Leben!" betitelt, als ich ihr vor wenigen Minuten geschrieben habe, als ich ihr auf die Frage: was machst du?, ein Bild aus dem Baumarkt mit hochgestrecktem Daumen und schiefem Lächeln geschickt, als ich ziellos durch die Regalreihen geirrt war, bis ich einen genervten Mitarbeiter gefunden und sich nach einem peinlichen und sicher viel zu langen Monolog meinerseits dazu erbarmt hatte, mir einen Weg aus dem Labyrinth zu zeigen.

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