| Kapitel 1 |

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Ich wache auf. Ich stehe auf. Ich gehe ins Bad, wasche mich, putze meine Zähne, ziehe mich an. All diese Sachen sind in den sechzehn Jahren meines Lebens zu einer Art Routine geworden. Ich muss darüber nicht nachdenken, ich mache es einfach. Ohne es zu hinterfragen. Ohne zu überlegen, ob ich meine Zähne nicht lieber vor dem Waschen putzen sollte, damit ich mein Gesicht nicht zwei Mal waschen muss. Ohne zu hinterfragen, ob ich meine Klamotten nicht lieber erst nach dem Frühstück anziehen sollte, falls ich mich vollkleckere. Ohne zu hinterfragen, ob das alles echt ist.

Ich weiß nicht, wie lange ich diese Routine schon habe, aber sie funktioniert einigermaßen gut, und somit bin ich schnell fertig und kann zur Schule gehen. Meine Routine ist verbesserungswürdig. Die Schule auch. Aber wir sind so sehr daran gewöhnt, dass uns solche Sachen nicht auffallen. Was mir gestern zum Glück aufgefallen ist, ist dass ich keine Klamotten mehr hatte und waschen musste, denn ansonsten müsste ich jetzt im Schlafanzug zur Schule gehen. So trage ich ein süßes, hellblaues Kleid, das meine Figur betont und perfekt für die warmen Temperaturen ist. Ich posiere noch ein wenig vor dem Garderobenspiegel, dann schwinge ich mir meinen Rucksack über die Schulter, verlasse das Haus und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Im Bus ist es mal wieder voll wie in einer Sardinenbüchse und der Geruch von Schweiß zusammen mit der sommerlichen Hitze droht mir das Bewusstsein zu rauben. Verzweifelt halte ich mich an der Stange fest und versuche, gleichmäßig zu atmen. Das passiert jeden morgen. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht dafür gemacht, mich bei Hitze in einen vollen Bus zu quetschen. Trotzdem schaffe ich es, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen, wie jeden Tag. Ich sollte einfach nicht mehr Bus fahren, aber dann habe ich keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Außerdem stelle ich mich wahrscheinlich einfach an, schließlich bin ich nicht die einzige, die mit diesem Bus fährt. Zitternd wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Was bin ich froh, dass ich Deo dabei habe. Der Bus hält an einer Bushaltestelle und viele Leute steigen aus. So viele, dass vor mir ein Platz frei wird. Das passiert nicht häufig, daher setze ich mich schnell hin und stelle meinen Rucksack neben mich. Niemand fragt, ob er sich hier hinsetzen darf. Das tut nie jemand. Ich lehne meinen Kopf gegen die angenehm kühle Fensterscheibe und schließe die Augen.

Als ich wieder aufwache tippt mir ein Junge auf die Schulter. „Darf ich mich hier hinsetzten?" Ich nicke schläfrig, ohne die Augen zu öffnen und ohne mich zu fragen, an welcher Station ich gerade bin. So kommt es, dass ich, als ich mich zehn Minuten später aufrappele, feststellen muss, das ich schon vor einer halben Stunde hätte aussteigen müssen. Mist, denke ich. Aber jetzt noch auszusteigen lohnt auch nicht mehr, zur Schule werde ich es sowieso nicht mehr pünktlich schaffen, da kann ich auch einfach schwänzen und schauen, wo der Bus noch so lang fährt. Mein Ticket reicht für ganz Deutschland, stellt also kein Problem dar.

„Na, Station verpasst?", fragt mich der Junge neben mir. Ich runzle die Stirn, sehe ich so verzweifelt aus? Aber ich nicke, denn das habe ich scheinbar.

„Zwei Stationen weiter fährt ein Bus zurück nach Sieseby, mit dem würdest du es noch vor der dritten Stunde schaffen." Verwundert sehe ich ihn an. Woher weiß er, dass ich aus Sieseby komme, wo er doch gerade erst eingestiegen ist? Kennen tue ich ihn jedenfalls nicht und aus Sieseby ist der Bus schon lange raus.

„Danke? Aber jetzt macht es auch keinen Sinn mehr, zur Schule zu gehen", antworte ich. Der Junge nickt lächelnd. Mir fällt jetzt erst auf, wie gut er aussieht. Er hat schwarze Haare, die zwar recht unordentlich und ungestylt sind, was ihm aber irgendwie steht. Seine Augen sind leuchtend blau und scheinen mir tief in die Seele zu blicken. Was aber nichts daran ändert, dass ich ihn seltsam finde.

„Frau Sens fände das sicher überhaupt nicht gut", grinst er. Nun bin ich wirklich erschrocken. Woher weiß er, wer meine Klassenlehrerin ist? Er geht nicht in meine Klasse und auch nicht auf meine Schule, dass wäre mir aufgefallen. Oder es wäre einer meiner Freundinnen aufgefallen, da diese gefühlt von jedem gut aussehendem Jungen in der Gegend die Adresse, Familieninformationen, Hintergrundsgeschichte und weiteres kennen. Ihn kennen sie nicht, bedeutet, er lebt nicht in Sieseby und sollte eigentlich nicht wissen, welche Lehrer mich unterrichten. Habe ich einen Stalker?

„Woher weißt du von Frau Sens?", frage ich, doch der Junge lächelt nur und erhebt sich, um auszusteigen. Bevor er aus der Tür tritt ruft er mir noch zu: „Man sieht sich wieder, schätze ich. Weiß ich. Dafür werde ich schon sorgen."

Dann lässt er mich verängstigt und verwirrt auf meinem Platz zurück, mit nur einem Gedanken im Kopf: Wer ist dieser Junge und woher weiß er all das über mich?

Es ist ein Spiel. Alles.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt